# 15 / 2019
06.11.2019

Sammelklagen: kaum Nutzen, viele Gefahren

Vor- und Nachteile von kollektivem Rechtsschutz

Vorteil: vereinfachte Rechtsdurchsetzung bei Streuschäden

Der einzige Vorteil der Einführung neuer Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung kann in einigen Fällen in der vereinfachten Durchsetzung von Individualansprüchen bei Streuschäden gesehen werden. Dies muss jedoch nicht immer eintreten, wie das über zwölfjährige Kapitalanlegermusterverfahren im Telekom-Fall in Deutschland zeigt. Diesem etwaigen Vorteil stehen jedoch zahlreiche Nachteile und Schwierigkeiten gegenüber. Es heisst zwar vonseiten der Befürworter des Ausbaus des kollektiven Rechtsschutzes stets, dass neue Instrumente auf eine Art und Weise eingeführt werden sollten, dass keine «amerikanischen Verhältnisse» entstehen. Wie dies möglich sein soll, ist schwer vorstellbar und wird auch nicht erläutert.

Grosse Bedeutung in den USA ...

Es ist kein Zufall, dass kollektiver Rechtsschutz in den USA stark verbreitet ist. Es ist dort verfassungspolitisch gewollt, dass private Rechtsstreite zur Durchsetzung staatlicher Regulierung genutzt werden. Man wollte den Staat soweit möglich aus dem Privaten heraushalten und hat den Privaten daher mächtige Durchsetzungsmittel in Form von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes zur Verfügung gestellt. Punitive Damages (d.h. Schadenersatzanspruchsforderungen, die den tatsächlichen Schaden um ein Mehrfaches übersteigen), Jury Trials (d.h. Laien können aufgrund der Billigkeit über einen Anspruch entscheiden) und stark ausgebaute Herausgabepflichten gegenüber Klägern (Discovery-Verfahren) runden dieses System der privaten Rechtsdurchsetzung ab.

… und auch grosse Probleme in den USA

Das US-System funktioniert keineswegs zur Zufriedenheit der Beteiligten. Das Risiko von existenzbedrohenden Sammelklagen hemmt Unternehmen in ihrer Entwicklung: Exorbitante Summen in Milliardenhöhe werden eingeklagt und oft auch zugesprochen. Untersuchungen des Federal Judicial Center und des Advisory Committee on Civil Rules zeigen, dass Sammelklagen im US-amerikanischen Prozessalltag problematisch sind. Insbesondere im Bereich des Schadenersatzrechts ist das Verhältnis zwischen dem Aufwand für den Gesamtprozess und dem Nutzen für den einzelnen Geschädigten längst nicht mehr gegeben: Für verhältnismässig geringfügige Ansprüche des Einzelnen müssen ausgesprochen aufwendige Zivilverfahren mit hohem Risiko für die Beklagten geführt werden. Die Durchsetzungs- wie auch die Verteidigungskosten sind ausserordentlich hoch, was primär für spezialisierte Anwaltskanzleien lukrativ ist, die in der Regel über ein hohes Erfolgshonorar am Prozessausgang beteiligt sind. Bislang sind alle Reformversuche gescheitert.

Auch in Australien, eine weitere angloamerikanische Rechtsordnung, in der Sammelklagen weit verbreitet sind, wird die konkrete Ausgestaltung und Praxis von Sammelklagen immer kritischer gesehen.

Nachteile des kollektiven Rechtsschutzes

Gefährdet Rechtsordnung

Das Schweizer Zivilprozessrecht ist ein ausbalanciertes System von Rechten von Klägern und Beklagten, eingebettet in eine reichhaltige Rechtsprechung. Die Einführung von systemfremden Elementen des kollektiven Rechtsschutzes aus ausländischen Rechtsordnungen würde das Funktionieren unseres Rechtssystems stören und zu unerwünschter Rechtsunsicherheit führen. Besonders bedrohlich wäre auch das Gefahrenpotenzial einer Kombination der Unternehmens-Verantwortungs-Initiative, der Beanspruchung unentgeltlicher Rechtspflege durch ausländische Kläger und der Implementierung von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes gemäss VE-ZPO.

Gerade die zwiespältigen Erfahrungen mit Sammelklagen – vorab in den USA und Australien – zeigen, dass dieser Klagetypus zahlreiche, systembedingte unliebsame Nebeneffekte mit sich bringt, die nicht verhindert werden können. Es greifen Automatismen, die zwangsläufig zu stossenden Verzerrungen führen.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Bei der Durchsetzung von zahlreichen Einzelansprüchen ist die Sammelklage, was die Gesamtforderung angeht, effizient. Auch bei einer Sammelklage muss aber jemand die Initiative ergreifen, Informationen sammeln, die Rechtsdurchsetzung vorbereiten und schliesslich die Klage einleiten. Dies ist mit erheblichem, insbesondere auch finanziellem Aufwand verbunden. Ein Vertreter der gesamten Klägerschaft befindet sich somit in einem Interessenkonflikt. In einem komplexeren Vertretungsverhältnis wie bei Sammelklagen führt dies dazu, dass ein Vertreter, in der Regel ein Anwalt, nicht mehr in der Lage ist, die Interessen der Vertretenen optimal wahrzunehmen. Entweder er nimmt aus Kostengründen weniger Aufwand auf sich, als es für die Vertretung der Interessen grundsätzlich erforderlich wäre, oder er versucht seinen Gewinn dadurch zu optimieren, dass er sich mit dem Beklagten möglichst früh einigt. In keinem der Fälle versucht er aber im Interesse der Betroffenen, das Maximum herauszuholen.

Vergleichserpressung

Ein Unternehmen, gegen welches eine hohe Forderung in einem Zivilverfahren geltend gemacht wird, steht vor langjährigen Unsicherheiten (zum Beispiel Rückstellungspflichten, die Verunsicherung von Investoren und Geschäftspartnern, erhebliche interne und externe Verteidigungskosten). Je länger das Verfahren dauert, desto höher sind die Risiken und auch Kosten. Diese werden zudem auch im Falle eines Erfolgs nie vollständig ersetzt. Oft wird das finanzielle Risiko einer Sammelklage die Möglichkeiten des Beklagten übersteigen. Daher wird dieser meist kein letztinstanzliches Urteil abwarten wollen oder gar können. Vielmehr wird er versuchen, das Verfahren frühzeitig zu erledigen und einen Vergleich zu schliessen. Dies wiederum ist nur möglich, soweit die Kläger damit einverstanden sind. Daraus ergibt sich erhebliches Erpressungspotenzial und ein unverhältnismässiger Druck zum Abschluss eines für ihn ausserordentlich unvorteilhaften Vergleichs.

Dass diese Situation ausgenutzt werden kann, wurde in den USA in Lehre und Rechtsprechung schon vor Jahrzehnten anerkannt. Eine eigentliche Lösung für das Problem gibt es aber bislang nicht.

Einseitige Vergleiche

Bei einem Sweetheart Deal – auch Sweetheart Settlement genannt – handelt es sich um eine Vereinbarung, die ausserordentlich vorteilhaft zugunsten eines Vertragspartners ist oder aber einen Dritten von einer Vereinbarung ausschliesst und ihn dadurch ausserordentlich schlechtstellt. Das Risiko eines einseitigen Vergleichs ist vor allem bei einer Mehrzahl von Klägern gegeben. Gerechtigkeit sieht anders aus.

Trittbrettfahrer

Schliesslich gibt es auch das Phänomen des Trittbrettfahrers. Jemand, der aufgrund der Umstände vom Streitgegenstand einer kollektiven Rechtsstreitigkeit erfasst ist, kann ohne einen Beitrag zu leisten, selbst wenn er keinen wirklichen Schaden erlitten hat, durch ein Urteil oder einen Vergleich in einem Sammelverfahren an eine Entschädigung gelangen. Dies widerspricht dem grundsätzlichen Rechtsempfinden, dass nur jemand, der einen tatsächlichen Schaden hat und diesen auch als Schaden empfindet, Anspruch auf Ersatz haben soll. Zudem wird auch, wie bereits ausgeführt, eine in unseren Breitengraden grundsätzlich unerwünschte Streitkultur gefördert.

Entzug des rechtlichen Gehörs

Beim kollektiven Rechtsschutz wird das Recht des Einzelnen zugunsten des Kollektivs stark eingeschränkt; der Einzelne verzichtet mit der Teilnahme an der Sammelklage quasi auf sein Recht auf individuelles rechtliches Gehör vor Gericht. Bundesverfassung sowie Europäische Menschenrechtskommission gewähren jeder Partei den Anspruch auf rechtliches Gehör. Dies bedeutet, dass ein Berechtigter, so klein sein Schaden auch ist, das Recht haben muss, sich im Verfahren zu äussern. Die massenweise Geltendmachung von Streuschäden verträgt sich aber nicht mit diesem Anspruch.

Fazit: Eine «Entamerikanisierung» von Sammelklagen ist unmöglich

Ein Blick ins europäische Ausland verrät, dass sich die wirklichen Nachteile von Instrumenten eines «echten» kollektiven Rechtsschutzes nicht beheben lassen. In Dänemark hat das ursprünglich vorgesehene Opt-in-Modell derart wenig Erfolg gehabt, dass es mit einem Opt-out-Modell ergänzt werden musste. In Polen und Italien haben sich die neu eingeführten Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes als eigentliche Rohrkrepierer herausgestellt. Und in Italien wurde jetzt neu in diesem Jahr ein Sammelklagesystem eingeführt, was recht nahe an das US-System heranreicht, nachdem der ursprüngliche kollektive Rechtsschutz zu wenig erfolgreich war. Zu schwache Mittel sind unattraktiv und werden nicht gebraucht. Zu starke Mittel sind problematisch, seien es Sammelklagen, Gruppenvergleiche oder der Ausbau von Verbandsklagerechten. Der Gesetzgeber befindet sich bei der Einführung von neuen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes also in einem Dilemma: Entweder er schwächt diese entsprechenden Schutzmechanismen oder er schafft scharfe Instrumente und nimmt gleichzeitig grosse Nachteile für den Wirtschaftsstandort zulasten von Unternehmen, aber auch von Konsumentinnen und Konsumenten in Kauf.