
Auf einen Blick
Seit einiger Zeit gibt es Bestrebungen, systemfremde Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes in die Schweizerische Zivilprozessordnung einzuführen. Die im Vorentwurf zur Änderung der Zivilprozessordnung (VE-ZPO) vorgesehenen Möglichkeiten würden zur Destabilisierung unseres Rechtssystems beitragen. Zur Durchsetzung von berechtigten Ansprüchen von Geschädigten stehen bereits heute diverse zivilprozessuale Mittel sowie beeindruckende technologische Möglichkeiten zur Bündelung von Klagen zur Verfügung. Zudem sollen die bereits heute bestehenden zivilprozessualen Mittel gemäss VE-ZPO im Interesse der Rechtssuchenden verbessert werden. Experimente zur Rechtsdurchsetzung mit neuen, unerprobten Rechtsmitteln führen zu höheren Risikokosten aufseiten der Anbieter und würden unseren Wirtschaftsstandort unnötigerweise schwächen.
Das Wichtigste in Kürze
Die Durchsetzung von kleinen Schäden kann sich für den Einzelnen aus verschiedenen Gründen teilweise nicht lohnen. Auch die Durchsetzung von grossen, einer Mehrzahl von Personen gleichzeitig widerfahrenen Schäden kann Schwierigkeiten verursachen. Daher sind Bestrebungen im Gang, diese vermeintlichen Lücken im Rechtssystem zu schliessen. Die zur Debatte stehenden Vorschläge schiessen dabei weit über das Ziel hinaus. So würde die Einführung von systemfremden Klageinstrumenten unser Rechtssystem destabilisieren. Zudem würden neue Risikokosten letztendlich auf Konsumentinnen und Konsumenten abgewälzt, was zu allgemein höheren Preisen führt. Dem bescheidenen Nutzen stehen demnach gravierende neue Probleme entgegen, die hohe Risiken bergen. Statt Experimente mit neuen, unerprobten Rechtsmitteln zu planen, sollten die bereits existierenden Instrumente, die einen kollektiven Rechtsschutz ermöglichen, gezielt verbessert werden. Alternativ denkbar ist der Ausbau von privaten Ombudsstellen oder Schlichtungsverfahren.
Position economiesuisse
- Für Unternehmen ist eine wirksame und funktionierende Rechtsdurchsetzung ebenso wichtig wie Rechtssicherheit.
- Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes sind systemfremd und gefährden das ausbalancierte Zivilprozessrecht.
- Ein allfälliger Ausbau mit dem Ziel eines kollektiven Rechtsschutzes hat in erster Linie auf Basis der etablierten und erprobten Instrumente zu erfolgen.
- Es soll kein Rechtssystem des Misstrauens geschaffen werden, in welchem der Streit gefördert wird.

Kollektiver Rechtsschutz im Überblick
Kollektiver Rechtsschutz umfasst alle Rechtsinstrumente, die zur Durchsetzung der Ansprüche einer Vielzahl von gleich oder gleichartig geschädigten Personen dienen. Solche Instrumente bieten die Möglichkeit der Bündelung der Interessen und Ressourcen in entsprechenden Verfahren.
Zwei Typen von Schäden
Beim kollektiven Rechtsschutz stehen zwei Schadens- oder Anspruchstypen im Vordergrund:
- Bei Streuschäden handelt es sich um Schäden, bei welchen eine Vielzahl von Personen in gleicher oder gleichartiger Weise betroffen ist, der Einzelne jedoch lediglich einen wertmässig kleinen Schaden erleidet. Das Besondere liegt darin, dass ein solcher Schaden auf den Einzelnen bezogen ausserordentlich klein sein kann (wenige Franken oder gar Rappen), in der Gesamtheit aber in die Millionen gehen kann.
- Bei einem Massenschaden wird eine Vielzahl von Personen in gleicher oder gleichartiger Weise betroffen und jede Person in einer für sie erheblichen Weise geschädigt. Für den einzelnen Kläger unterscheiden sich Massenschäden nicht von normalen Schäden.

Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes
Sammelklagen
Bei einer Sammelklage oder Gruppenklage handelt es sich um eine Klage des Zivilrechts, die im Falle ihres Erfolgs nicht nur dem Kläger Ansprüche verschafft, sondern jeder Person, die in gleicher Weise wie der Kläger vom betreffenden Sachverhalt betroffen ist – dies unabhängig davon, ob sie selbst geklagt hat. Man kann zwischen zwei Typen von Sammelklagen unterscheiden.
Bei der Opt-in-Gruppenklage muss der Betroffene ausdrücklich sein Einverständnis erklären, Teil der Klägergruppe zu werden.
Abbildung 1
Opt-in-Gruppenklage

Bei der Opt-out-Gruppenklage muss der Betroffene sich ausdrücklich melden, wenn er nicht zur Gruppe gehören will.
Abbildung 2
Opt-out-Gruppenklage

Gruppenvergleichsverfahren
Ein Gruppenvergleich kann als Opt-in- oder als Opt-out-Modell konzipiert sein. Im Unterschied zur Gruppenklage wird jedoch nicht vor einem Gericht über die Ansprüche befunden, sondern es findet eine Vergleichsverhandlung über die allfälligen Ansprüche statt. Kommt eine Einigung zustande, wird diese für alle Beteiligten verbindlich.
Art. 352a ff. VE-ZPO ist als rein konsensuales Gruppenverfahren, nicht als kontradiktorisches Zweiparteienverfahren, ausgestaltet (keine Klage, kein Schriftenwechsel, kein Beweisverfahren für materielle Anspruchsprüfung, Opt-out-Ansatz usw.).
Verbandsklagen
Mit einer Verbandsklage werden Vereine, Verbände und andere Organisationen, die gemäss ihren Statuten berechtigt sind, die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen, befugt, im eigenen Namen wegen Verletzung zivilrechtlicher Pflichten zu klagen.
Prozessfinanzierung
In wenigen Jahren hat sich die Finanzierung von Zivilprozessen in der Schweiz im Interesse von rechtsuchenden Parteien etabliert. Künftig sollen die Gerichte sogar dazu verpflichtet werden, die Parteien auf dieses Instrument hinzuweisen (vgl. Art. 97 VE-ZPO). Durch die Finanzierung von Zivilprozessen werden Kläger in die Lage versetzt, kostengünstig berechtigte Ansprüche prozessual durchzusetzen. Hinzu kommt, dass der Bundesrat vorsieht, dass dem Gericht eine Aufklärungspflicht hinsichtlich der Möglichkeiten der Prozessfinanzierung zukommen solle.
Zu bedenken ist, dass die Gefahr missbräuchlicher Klagen nur zurückgebunden werden kann, wenn für die klagende Partei ein Kostenrisiko besteht.

Entwicklung in der Schweiz
Aufgrund vereinzelter Fälle, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im Jahre 2008 oder dem VW-Abgasskandal im Jahr 2015, wächst der Druck, den Rechtsschutz zur Durchsetzung kollektiver Ansprüche auszubauen.
Im Juli 2013 veröffentlichte der Bundesrat seinen Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz». Darin analysierte er die aktuelle Situation der Rechtsdurchsetzung in der Schweiz und kam zum Schluss, dass die geltenden Regelungen nicht ausreichend seien.
Der Bericht fokussierte auf Gesetzesanpassungen, die aus Sicht der Verfasser wünschenswert sind. Dabei stand die Einführung von Instrumenten einer sogenannten «echten» kollektiven Rechtsdurchsetzung im Fokus des Berichts (Gruppenklagen, Gruppenvergleichsverfahren oder der Ausbau der Verbandsklage). Der Bundesrat hat jedoch auf die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs verzichtet.
Gestützt auf den Bericht des Bundesrats wurde eine Motion eingereicht. Diese wurde von den eidgenössischen Räten angenommen. Der Bundesrat wurde damit beauftragt, die notwendigen Gesetzesänderungen auszuarbeiten, die es einer grossen Anzahl gleichartig Geschädigter erleichtern, ihre Ansprüche gemeinsam vor Gericht geltend zu machen. Es sollten einerseits die bereits bestehenden Instrumente ausgebaut, andererseits auch neue Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes geschaffen werden. Deren Ausgestaltung sollte den spezifischen schweizerischen Gegebenheiten sowie der Verhinderung von Missbräuchen Rechnung tragen und sich an den Erfahrungen, die in anderen europäischen Ländern mit solchen Modellen gesammelt wurden, orientieren. Es sollten «entamerikanisierte» Formen der Sammelklagen eingeführt werden.
Modernes Zivilprozessrecht vorhanden
Das Zivilprozessrecht wurde in der Schweiz erst vor wenigen Jahren vereinheitlicht und dabei grundlegend überarbeitet. Bei dieser grossen Revision im Jahr 2011 war die Einführung von Sammelklagen klar abgelehnt worden, da diese nach Auffassung der Expertenkommission zu grossen Schwierigkeiten geführt hätte. Damals wurde klar festgehalten, dass die bestehenden Möglichkeiten der Bündelung von Klagen ausreichend seien.
Auch sind diverse Rechtsexperten der Auffassung, dass Sammelklagen keinen Platz in unserem Rechtssystem haben und warnen vor überhasteten Anpassungen am System.
Entsprechend hat auch economiesuisse in seiner Vernehmlassung zum VE-ZPO vom 11. Juni 2018 die Einführung von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes klar abgelehnt und die Schädlichkeit für den Wirtschaftsstandort Schweiz aufgezeigt.

Stärken und Schwächen des Schweizer Systems
Grundsatz: Kläger gegen Beklagten
Im Schweizer Zivilprozess stehen sich in der Regel zwei Parteien gegenüber: Kläger und Beklagter. Ein Kläger muss seinen individuellen Anspruch dadurch durchsetzen, dass er seine persönliche Betroffenheit und seinen persönlichen Schaden sowie die Kausalität (d.h. den Zusammenhang) zwischen beidem darlegt und nachweist. In unserem System stehen das Individuum und der Einzelfall im Vordergrund; Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung werden dadurch zum Fremdkörper. Anders als in den USA (siehe Kasten unten) ist die Durchsetzung regulatorischer Vorgaben in der Schweiz Sache des Staates. Die entsprechenden Aufsichtsbehörden prüfen das gesetzeskonforme Verhalten der Marktteilnehmer und sprechen nötigenfalls Bussen aus.
Strukturelle Herausforderungen
Dieser in der Schweiz traditionelle Ansatz wird im Zusammenhang mit Streuschäden neuerdings von Konsumentenschützern infrage gestellt (zum Beispiel, weil sich die Durchsetzung des Schadens aus Kostengründen nicht lohnt).
Kosten
Bei geringen Streitwerten stehen die Kosten für ein Verfahren über möglicherweise mehrere Instanzen in keinem Verhältnis zum Streitwert. Die Zivilprozessordnung sieht zudem vor, dass das Gericht von der klagenden Partei einen Vorschuss bis zur Höhe der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen kann. Der Kostenvorschuss kann für einzelne Kläger eine Hürde bedeuten. Dieses Risiko wird für berechtigte Ansprüche durch das neu etablierte Instrument der Prozessfinanzierung erheblich gemindert (vgl. Prozessfinanzierung).
Strukturelles Ungleichgewicht zwischen Parteien
Ein Geschädigter hat bei Streu- und Massenschäden teilweise weder die Mittel, die geeigneten Kontakte zu Anwälten, noch die Erfahrung, um einen Streitfall zu führen. Dies im Gegenzug zum Beklagten, der oft über bessere rechtliche und finanzielle Ressourcen verfügt. Es gibt aber zahlreiche Ausnahmen: So kann sich auch ein kleiner Vermögensverwalter einer Forderung eines Milliardärs gegenübersehen oder ein kleiner Buchverlag der Forderung eines grossen Konzerns. In solchen Fällen würde durch den Ausbau der klägerischen Mittel eine klare Ungerechtigkeit zulasten des Beklagten geschaffen.
Prozesskostenrisiko
Bei der Geltendmachung von Massenschäden kann ein Kläger ein hohes Prozesskostenrisiko tragen. Schlimmstenfalls trägt er die Kosten seines Anwalts, die Kosten des Gerichts und einen Teil der Anwaltskosten der Gegenpartei. Zu bedenken ist jedoch, dass dies dem normalen Risiko entspricht, das ein Kläger stets zu tragen hat, wenn er ein Zivilverfahren einleitet.
Rationale Apathie
Möglich ist, dass ein Einzelner kein Interesse hat, geringfügige Schäden überhaupt geltend zu machen. Er wird, um sich Zeit, Geld und Ärger zu sparen, viel eher die Summe abschreiben, als sich durch einen möglicherweise mehrere Jahre dauernden Rechtsstreit aufzureiben.

Bestehende Instrumente und Optimierungspotenzial
Angesichts der vorgeschlagenen, möglicherweise erheblichen Anpassungen im Schweizer Rechtssystem sowie den damit verbundenen zahlreichen Unsicherheiten und Risiken sollen die bereits bestehenden Rechtsmittel kurz dargestellt werden. Diese ermöglichen schon heute, die im Zusammenhang mit kollektivem Rechtsschutz typischerweise vorkommenden Anspruchstypen durchzusetzen (darunter insbesondere auch Streuschäden). Hinzu kommt, dass – neben den im VE-ZPO vorgesehenen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes – auch die Voraussetzungen der einfachen Streitgenossenschaft und der objektiven Klagenhäufung modifiziert werden sollen. Dadurch sollen die den Klägern bereits heute zur Verfügung stehenden Instrumente nochmals signifikant verbessert werden.
Bei der Globalabtretung treten die Gläubiger ihre Rechtsansprüche an einen Dritten ab, der dann in seinem eigenen Namen den Prozess führt.
Abbildung 3
Funktionsweise der Globalabtretung

Subjektive Klagenhäufung
Ein weiteres Instrument ist die subjektive Klagenhäufung. Bei dieser schliessen sich mehrere Betroffene zusammen und klagen gemeinsam vor dem gleichen Gericht. Die subjektive Klagenhäufung ist auch als Streitgenossenschaft bekannt. Auch hier sieht der Vorentwurf bereits Vereinfachungen zugunsten der Kläger vor, da die subjektive Klagenhäufung neu selbst dann eingesetzt werden kann, wenn nicht alle Ansprüche der gleichen Verfahrensart unterliegen.
Bei der subjektiven Klagenhäufung schliessen sich mehrere Betroffene zusammen und klagen gemeinsam vor dem gleichen Gericht.
Abbildung 4
Funktionsweise der subjektiven Klagenhäufung

Erfolgshonorare
Das anwaltliche Standesrecht lässt es heute zu, dass ein Teil des Honorars auf Basis des tatsächlich erzielten Erfolgs ausbezahlt wird. Damit lässt sich das Prozessrisiko zum Teil vom Geschädigten zum Anwalt verschieben, der sehr gut in der Lage ist, dieses Risiko einzuschätzen. Nur die Vereinbarung der reinen Beteiligung am Prozessgewinn ist verboten. Ein Anwalt, der einen Fall anvertraut erhält, kann folglich einen Teil seines Honorars vom Erfolg abhängig machen und finanzschwachen Klägern entgegenkommen. Besonders attraktiv wird dies, wenn er mehrere Kläger gemeinsam vertreten kann (vgl. Box unten).
Muster-/Testklage
Bei einer Muster- oder Testklage klagt ein einzelner Betroffener – mit oder ohne Unterstützung eines Verbands – auf Ersatz seines Schadens. Das Ergebnis können dann andere Betroffene nutzen, um ihren Schaden geltend zu machen. Ein Beklagter, der bereits im Testverfahren unterlegen ist, wird es in der Regel nicht auf weitere Klagen ankommen lassen und Hand für Vergleiche bieten.
Technologische Entwicklungen oder die Macht der Masse
Legal Tech-Entwicklungen der letzten Jahre erleichtern potenziellen Klägern die Bündelung von Klagen. Die «Macht der Masse im Internet» sowie die Entwicklung neuerer Technologien dürften die Rechtsdurchsetzung auch kleinerer Forderungen für eine Vielzahl potenzieller Kläger künftig stark begünstigen (vgl. einige ausgewählte Stichworte hierzu als Beispiele: Blockchain, Distributed Ledger, Social Media, Forderungssammlungsplattformen, Rechtsdurchsetzungsgesellschaften, Finanzierungsmodelle und Unterstützung von Verfahren bei Massenschäden.
Mit Einführung des kollektiven Rechtsschutzes. in der Schweiz wäre auch mit Ablegern von US-amerikanischen Rechtsanwaltskanzleien zu rechnen. Diese könnten auf Onlineplattformen vermeintliche Schadenersatzansprüche von Verbrauchern sammeln, um sie – finanziell unterstützt von Prozessfinanzierern – gegen Unternehmen geltend zu machen.
Weitere Verfahrensmöglichkeiten zur geschickten Vorbereitung des Zivilprozesses
Das Zivilprozessrecht bietet weitere Lösungen für Probleme im Zusammenhang mit der kollektiven Geltendmachung von Ansprüchen an. Bei der Geltendmachung von Massenschäden ist oft der Einwand zu hören, dass der Einzelne ein zu hohes Prozessrisiko trage, da er im Falle eines Unterliegens seine Kosten, diejenigen des Gerichts und zum Teil diejenigen der Gegenseite zu tragen hat. Hier bietet ihm das Zivilprozessrecht die Möglichkeit der Teilklage. Diese garantiert jedem Kläger die Befugnis, lediglich einen Teil seines Anspruchs einzuklagen, womit ein geeignetes Mittel zur Abdämpfung des Prozessrisikos zur Verfügung steht. Schliesslich gibt es in Bezug auf die Verfahrenskoordination weitere Möglichkeiten. So kann ein Gericht selbstständig eingereichte Klagen vereinigen oder bei zusammenhängenden Verfahren an ein bereits befasstes Gericht überweisen.
Ombudsstelle
Eine Ombudsstelle hat die Aufgabe einer unparteiischen Schiedsstelle. Banken, Versicherungen, Telekommunikation, Tourismus und zahlreiche weitere Branchen kennen alle Ombudsstellen. Deren Aufgabe ist es, ein effizientes, kostengünstiges oder für Geschädigte gar kostenloses Verfahren zur Verfügung zu stellen, damit Streitigkeiten aus der jeweiligen Branche schnell geschlichtet werden können. Die zahlreichen privaten Ombudsstellen zeichnen sich durch vertiefte Branchenkenntnis und hohe Effizienz aus. Soweit jemand mit dem Ausgang eines Ombudsverfahrens nicht einverstanden ist, steht es ihm offen, an ein ordentliches Gericht zu gelangen. Gerade bei kleineren Forderungen sind Ombudsverfahren das ideale Mittel, einen Anspruch überprüfen zu lassen. Die Ombudsverfahren dürfen jedoch nicht verstaatlicht oder strengen Verfahrensordnungen unterworfen werden, da sie sonst nicht mehr richtig funktionieren.
Kein Mittel gegen Desinteresse
Wie dargestellt, bestehen bereits heute zahlreiche Möglichkeiten, die Interessen ganzer Personengruppen geltend zu machen oder auch mit vertretbaren Risiken Streu- oder Massenschäden einzufordern.
Es gibt kein zivilprozessuales Mittel gegen das Desinteresse eines Klägers, einen geringfügigen Betrag einzufordern. Es macht auch keinen Sinn, wenn der Staat Personen quasi dazu zwingt, einen für sie offensichtlich belanglosen Schaden dennoch einzufordern. Nutzniesser sind hier zum Nachteil des Wirtschaftsstandorts auf internationaler Ebene lediglich die Interessenvertreter, Anwälte und andere Organisationen, nicht jedoch die Betroffenen selbst. Diese sind vielmehr die Leidtragenden, da ihnen über steigende Preise schliesslich die Kosten überwälzt werden. Zudem würde dadurch auch eine in unseren Breitengraden unerwünschte Streitkultur gefördert.

Vor- und Nachteile von kollektivem Rechtsschutz
Vorteil: vereinfachte Rechtsdurchsetzung bei Streuschäden
Der einzige Vorteil der Einführung neuer Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung kann in einigen Fällen in der vereinfachten Durchsetzung von Individualansprüchen bei Streuschäden gesehen werden. Dies muss jedoch nicht immer eintreten, wie das über zwölfjährige Kapitalanlegermusterverfahren im Telekom-Fall in Deutschland zeigt. Diesem etwaigen Vorteil stehen jedoch zahlreiche Nachteile und Schwierigkeiten gegenüber. Es heisst zwar vonseiten der Befürworter des Ausbaus des kollektiven Rechtsschutzes stets, dass neue Instrumente auf eine Art und Weise eingeführt werden sollten, dass keine «amerikanischen Verhältnisse» entstehen. Wie dies möglich sein soll, ist schwer vorstellbar und wird auch nicht erläutert.
Grosse Bedeutung in den USA ...
Es ist kein Zufall, dass kollektiver Rechtsschutz in den USA stark verbreitet ist. Es ist dort verfassungspolitisch gewollt, dass private Rechtsstreite zur Durchsetzung staatlicher Regulierung genutzt werden. Man wollte den Staat soweit möglich aus dem Privaten heraushalten und hat den Privaten daher mächtige Durchsetzungsmittel in Form von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes zur Verfügung gestellt. Punitive Damages (d.h. Schadenersatzanspruchsforderungen, die den tatsächlichen Schaden um ein Mehrfaches übersteigen), Jury Trials (d.h. Laien können aufgrund der Billigkeit über einen Anspruch entscheiden) und stark ausgebaute Herausgabepflichten gegenüber Klägern (Discovery-Verfahren) runden dieses System der privaten Rechtsdurchsetzung ab.
… und auch grosse Probleme in den USA
Das US-System funktioniert keineswegs zur Zufriedenheit der Beteiligten. Das Risiko von existenzbedrohenden Sammelklagen hemmt Unternehmen in ihrer Entwicklung: Exorbitante Summen in Milliardenhöhe werden eingeklagt und oft auch zugesprochen. Untersuchungen des Federal Judicial Center und des Advisory Committee on Civil Rules zeigen, dass Sammelklagen im US-amerikanischen Prozessalltag problematisch sind. Insbesondere im Bereich des Schadenersatzrechts ist das Verhältnis zwischen dem Aufwand für den Gesamtprozess und dem Nutzen für den einzelnen Geschädigten längst nicht mehr gegeben: Für verhältnismässig geringfügige Ansprüche des Einzelnen müssen ausgesprochen aufwendige Zivilverfahren mit hohem Risiko für die Beklagten geführt werden. Die Durchsetzungs- wie auch die Verteidigungskosten sind ausserordentlich hoch, was primär für spezialisierte Anwaltskanzleien lukrativ ist, die in der Regel über ein hohes Erfolgshonorar am Prozessausgang beteiligt sind. Bislang sind alle Reformversuche gescheitert.
Auch in Australien, eine weitere angloamerikanische Rechtsordnung, in der Sammelklagen weit verbreitet sind, wird die konkrete Ausgestaltung und Praxis von Sammelklagen immer kritischer gesehen.
Nachteile des kollektiven Rechtsschutzes
Gefährdet Rechtsordnung
Das Schweizer Zivilprozessrecht ist ein ausbalanciertes System von Rechten von Klägern und Beklagten, eingebettet in eine reichhaltige Rechtsprechung. Die Einführung von systemfremden Elementen des kollektiven Rechtsschutzes aus ausländischen Rechtsordnungen würde das Funktionieren unseres Rechtssystems stören und zu unerwünschter Rechtsunsicherheit führen. Besonders bedrohlich wäre auch das Gefahrenpotenzial einer Kombination der Unternehmens-Verantwortungs-Initiative, der Beanspruchung unentgeltlicher Rechtspflege durch ausländische Kläger und der Implementierung von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes gemäss VE-ZPO.
Gerade die zwiespältigen Erfahrungen mit Sammelklagen – vorab in den USA und Australien – zeigen, dass dieser Klagetypus zahlreiche, systembedingte unliebsame Nebeneffekte mit sich bringt, die nicht verhindert werden können. Es greifen Automatismen, die zwangsläufig zu stossenden Verzerrungen führen.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Bei der Durchsetzung von zahlreichen Einzelansprüchen ist die Sammelklage, was die Gesamtforderung angeht, effizient. Auch bei einer Sammelklage muss aber jemand die Initiative ergreifen, Informationen sammeln, die Rechtsdurchsetzung vorbereiten und schliesslich die Klage einleiten. Dies ist mit erheblichem, insbesondere auch finanziellem Aufwand verbunden. Ein Vertreter der gesamten Klägerschaft befindet sich somit in einem Interessenkonflikt. In einem komplexeren Vertretungsverhältnis wie bei Sammelklagen führt dies dazu, dass ein Vertreter, in der Regel ein Anwalt, nicht mehr in der Lage ist, die Interessen der Vertretenen optimal wahrzunehmen. Entweder er nimmt aus Kostengründen weniger Aufwand auf sich, als es für die Vertretung der Interessen grundsätzlich erforderlich wäre, oder er versucht seinen Gewinn dadurch zu optimieren, dass er sich mit dem Beklagten möglichst früh einigt. In keinem der Fälle versucht er aber im Interesse der Betroffenen, das Maximum herauszuholen.
Vergleichserpressung
Ein Unternehmen, gegen welches eine hohe Forderung in einem Zivilverfahren geltend gemacht wird, steht vor langjährigen Unsicherheiten (zum Beispiel Rückstellungspflichten, die Verunsicherung von Investoren und Geschäftspartnern, erhebliche interne und externe Verteidigungskosten). Je länger das Verfahren dauert, desto höher sind die Risiken und auch Kosten. Diese werden zudem auch im Falle eines Erfolgs nie vollständig ersetzt. Oft wird das finanzielle Risiko einer Sammelklage die Möglichkeiten des Beklagten übersteigen. Daher wird dieser meist kein letztinstanzliches Urteil abwarten wollen oder gar können. Vielmehr wird er versuchen, das Verfahren frühzeitig zu erledigen und einen Vergleich zu schliessen. Dies wiederum ist nur möglich, soweit die Kläger damit einverstanden sind. Daraus ergibt sich erhebliches Erpressungspotenzial und ein unverhältnismässiger Druck zum Abschluss eines für ihn ausserordentlich unvorteilhaften Vergleichs.
Dass diese Situation ausgenutzt werden kann, wurde in den USA in Lehre und Rechtsprechung schon vor Jahrzehnten anerkannt. Eine eigentliche Lösung für das Problem gibt es aber bislang nicht.
Einseitige Vergleiche
Bei einem Sweetheart Deal – auch Sweetheart Settlement genannt – handelt es sich um eine Vereinbarung, die ausserordentlich vorteilhaft zugunsten eines Vertragspartners ist oder aber einen Dritten von einer Vereinbarung ausschliesst und ihn dadurch ausserordentlich schlechtstellt. Das Risiko eines einseitigen Vergleichs ist vor allem bei einer Mehrzahl von Klägern gegeben. Gerechtigkeit sieht anders aus.
Trittbrettfahrer
Schliesslich gibt es auch das Phänomen des Trittbrettfahrers. Jemand, der aufgrund der Umstände vom Streitgegenstand einer kollektiven Rechtsstreitigkeit erfasst ist, kann ohne einen Beitrag zu leisten, selbst wenn er keinen wirklichen Schaden erlitten hat, durch ein Urteil oder einen Vergleich in einem Sammelverfahren an eine Entschädigung gelangen. Dies widerspricht dem grundsätzlichen Rechtsempfinden, dass nur jemand, der einen tatsächlichen Schaden hat und diesen auch als Schaden empfindet, Anspruch auf Ersatz haben soll. Zudem wird auch, wie bereits ausgeführt, eine in unseren Breitengraden grundsätzlich unerwünschte Streitkultur gefördert.
Entzug des rechtlichen Gehörs
Beim kollektiven Rechtsschutz wird das Recht des Einzelnen zugunsten des Kollektivs stark eingeschränkt; der Einzelne verzichtet mit der Teilnahme an der Sammelklage quasi auf sein Recht auf individuelles rechtliches Gehör vor Gericht. Bundesverfassung sowie Europäische Menschenrechtskommission gewähren jeder Partei den Anspruch auf rechtliches Gehör. Dies bedeutet, dass ein Berechtigter, so klein sein Schaden auch ist, das Recht haben muss, sich im Verfahren zu äussern. Die massenweise Geltendmachung von Streuschäden verträgt sich aber nicht mit diesem Anspruch.
Fazit: Eine «Entamerikanisierung» von Sammelklagen ist unmöglich
Ein Blick ins europäische Ausland verrät, dass sich die wirklichen Nachteile von Instrumenten eines «echten» kollektiven Rechtsschutzes nicht beheben lassen. In Dänemark hat das ursprünglich vorgesehene Opt-in-Modell derart wenig Erfolg gehabt, dass es mit einem Opt-out-Modell ergänzt werden musste. In Polen und Italien haben sich die neu eingeführten Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes als eigentliche Rohrkrepierer herausgestellt. Und in Italien wurde jetzt neu in diesem Jahr ein Sammelklagesystem eingeführt, was recht nahe an das US-System heranreicht, nachdem der ursprüngliche kollektive Rechtsschutz zu wenig erfolgreich war. Zu schwache Mittel sind unattraktiv und werden nicht gebraucht. Zu starke Mittel sind problematisch, seien es Sammelklagen, Gruppenvergleiche oder der Ausbau von Verbandsklagerechten. Der Gesetzgeber befindet sich bei der Einführung von neuen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes also in einem Dilemma: Entweder er schwächt diese entsprechenden Schutzmechanismen oder er schafft scharfe Instrumente und nimmt gleichzeitig grosse Nachteile für den Wirtschaftsstandort zulasten von Unternehmen, aber auch von Konsumentinnen und Konsumenten in Kauf.

Position der Wirtschaft
Massvolle Rechtsdurchsetzung auf Basis bewährter Instrumente
Das Recht und damit auch das Zivilprozessrecht widerspiegeln die gesellschaftliche Entwicklung und sind stetem Wandel unterworfen. Bei Anpassungen des Rechts und insbesondere des Rechtssystems gilt es immer, dessen ungestörtes Funktionieren und somit auch den historischen Kontext und die Tradition des Systems im Auge zu behalten. Dies gilt es vor allem zu beachten, wenn neue, in der Schweiz unerprobte Rechtsinstrumente eingeführt werden sollen.
Es muss – ein entsprechendes Bedürfnis vorausgesetzt – immer ein Ausbau auf der Basis der bestehenden und etablierten Instrumente im Vordergrund stehen. Dass ein bestehendes Rechtsinstrument nicht gebraucht wird, muss nicht heissen, dass es nicht ausreichend attraktiv ist. Es kann durchaus auch darauf zurückzuführen sein, dass kein Bedürfnis vorhanden ist. In einem solchen Fall macht es wenig Sinn, die Attraktivität des Instruments zu erhöhen. Es ist nicht erkennbar, was die tatsächlichen Vorzüge von einzelnen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes sein sollen: So unterscheidet sich eine Opt-in-Gruppenklage nur marginal von der in der Schweiz bereits heute möglichen Forderungsabtretung. Da sich die Forderungsabtretung weniger leicht instrumentalisieren lässt, hat sie auch weniger Nachteile als die Gruppenklage.
Keine Experimente
Die Wirtschaft geht davon aus, dass der Konsument im Zusammenspiel mit seiner Wahlfreiheit und der korrekten Information einen bewussten Entscheid fällt, in eine Ware oder eine Dienstleistung zu investieren. Viele Fehlentscheide liessen sich bei normaler Aufmerksamkeit verhindern. Informationen können heute viel leichter und effizienter als früher beschafft werden. Bei neuen Gesetzen sollte der Fokus daher prinzipiell auf der Schadensverhinderung und nicht auf dem Ausbau der Rechtsdurchsetzung liegen.
Soweit tatsächliche und konkrete Probleme bestehen sollten, die zu stossenden Ungerechtigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung führen, will die Wirtschaft diese auf der Basis des bestehenden Rechts beheben. Ein Abbau von Prozesshürden kann beispielsweise durch eine Anpassung der Vorschusspflichten erreicht werden. Eine noch einfachere Koordination von einzelnen Verfahren kann mit geringfügigen Modifikationen in der Zivilprozessordnung erreicht werden (konkret zum Beispiel wie bereits vorne erwähnt Art. 71 und 90 VE-ZPO). Gleichzeitig kann auch geprüft werden, wie weit Ombudsverfahren oder andere Schlichtungsverfahren ausgebaut oder gefördert werden müssen. Die überstürzte Einführung von nicht etablierten Prozessinstrumenten wie des Gruppenvergleichs (Art. 352a ff. VE-ZPO) oder der erweiterten Verbandsklage (Art. 89 und 89a VE-ZPO) lehnt die Wirtschaft klar ab.
Die Kosten tragen die Konsumentinnen und Konsumenten!
Anpassungen, die auf den ersten Blick als «gerecht» oder «modern» empfunden werden, führen zu klar höheren Risikokosten aufseiten der Anbieter. Dies verteuert die Produkte, hemmt den Wettbewerb und hat damit am Ende insbesondere ein geringeres Angebot und Mehrkosten für die Endverbraucher zur Folge.
Newsletter abonnieren
Jetzt hier zum Newsletter eintragen. Wenn Sie sich dafür anmelden, erhalten Sie ab nächster Woche alle aktuellen Informationen über die Wirtschaftspolitik sowie die Aktivitäten unseres Verbandes.

