Zahnmedizin

Erfolgsmodell Zahnmedizin braucht kein Obligatorium

14.07.2016

Auf einen Blick

Die Zahnhygiene der Schweizer Bevölkerung ist im internationalen Vergleich vorbildlich. Die Kosten für zahnmedizinische Leistungen entwickeln sich nur in bescheidenem Umfang, obwohl die Versorgung auf hohem Niveau ist. Trotzdem werden Forderungen nach einem Zahnversicherungsobligatorium laut – insbesondere, um soziale Unterschiede bei der Zahngesundheit zu beseitigen. Ein Blick ins Ausland macht deutlich, dass dieses Vorgehen nicht Erfolg versprechend ist.

Das Wichtigste in Kürze

Immer wieder gibt es in der Schweiz Bestrebungen, für die Zahnmedizin analog zur Humanmedizin eine obligatorische Grundversicherung einzuführen. Derzeit werden entsprechende Projekte vor allem in der Romandie und im Tessin auf kantonaler Ebene vorangetrieben. Begründet wird die Forderung mit der Tatsache, dass Menschen aus ärmeren Verhältnissen oft eine unterdurchschnittliche Zahngesundheit aufweisen. Ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt allerdings: Die Zahngesundheit in der Schweiz ist gut, und das Finanzierungsmodell hat auf die soziale Differenz keinerlei Auswirkungen. Das auf Selbstverantwortung aufbauende Modell der Schweiz hat zudem den Vorteil, dass die Kosten unterdurchschnittlich wachsen.

Position economiesuisse

  •  Eine obligatorische Zahnversicherung würde die Innovation in der Zahnmedizin verlangsamen.
  • Die zahnmedizinische Versorgung in der Schweiz ist effizient, weitgehend selbsttragend und benötigt keine Umverteilung.
  • Eine solidarische Finanzierung der zahnmedizinischen Leistungen vermag die Ungleichheit nicht zu verringern.
  • Die Zahnmedizin ist eine Erfolgsstory. Es gibt keinen Grund, in diesem Bereich etwas zu ändern.
Zahnmedizin

Zahnmedizin in der Schweiz: eine Erfolgsgeschichte

Die Schweizer Zahnmedizin ist in mehrfacher Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Erstens hat sich die Zahngesundheit von Generation zu Generation enorm verbessert. Zweitens konnte dieser Behandlungserfolg mit einer unterdurchschnittlichen Kostenentwicklung erreicht werden. Und drittens wird die Solidargemeinschaft, im Gegensatz zum übrigen Gesundheitsbereich, kaum belastet. Ein Grund, dieses erfolgreiche System zu verändern, ist nicht erkennbar. Und doch gibt es politische Akteure, die das anders sehen: In regelmässigen Abständen wird versucht, am Erfolgsmodell Zahnmedizin zu rütteln. Bisherige Vorstösse auf nationaler Ebene waren zwar chancenlos. Doch kantonale Reformbestrebungen könnten das Erfolgsmodell trotzdem ins Wanken bringen.

Zahnmedizin

Ein gefährdetes Erfolgsmodell

Ein gefährdetes Erfolgsmodell

Die obligatorische Grundversicherung übernimmt gemäss Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) nur vereinzelt zahnärztliche Leistungen. Die meisten Kosten für die Zahnbehandlung werden «out of pocket», also von den Patientinnen und Patienten selbst bezahlt. Vor allem linken Politikern ist das ein Dorn im Auge. Auf nationaler Ebene gab es in letzter Zeit zwei Vorstösse, die Leistungen beim Zahnarzt obligatorisch zu versichern. Das eine Mal mit einer separaten, obligatorischen Zahnversicherung, das andere Mal integriert in die bestehende, obligatorische Grundversicherung gemäss KVG. Im Jahr 2006 scheiterte Josef Zisyadis (PdA) mit seinem Vorstoss «Obligatorische und öffentliche Versicherung für die zahnmedizinische Grundversorgung». Seine Motion wurde abgeschrieben. Das gleiche Schicksal ereilte auch Jean-Charles Rielle (SP), der die Parlamentarische Initiative «KVG. Rückerstattung der Kosten von zahnärztlichen Behandlungen» im Jahr 2011 eingereicht hatte.

Ideen für Zahnversicherungen in der Romandie und im Tessin

Auf kantonaler Ebene gibt es derzeit mehrere Vorstösse zur Einführung einer obligatorischen Zahnversicherung. Diese wurden ausschliesslich in der Romandie und im Tessin lanciert: 

  • Kanton Freiburg: Ein Postulat, das am 15. Juni vom Grossrat abgelehnt wurde, verlangt, dass die Kantonsregierung die Gründung einer öffentlichen obligatorischen Zahnversicherung prüft.
  • Kanton Genf: Das Kantonsparlament diskutierte im November 2013 eine Motion, die eine kantonale Zahnversicherung verlangt und als kurzfristige Massnahme Personen mit tiefem Einkommen Zugang zu Zahnbehandlungen ermöglichen will. Am 17. März 2016 hat der Kantonsrat die Motion nochmals in die Gesundheitskommission gegeben, sodass sie gleichzeitig mit einem Gesetzesentwurf einiger Parlamentarier geprüft werden kann, der ein ähnliches Ziel verfolgt.
  • Kanton Jura: In ihrem Wahlprogramm 2015 führte die jurassische SP unter anderem die Gründung einer kantonalen Zahnversicherung als Ziel auf. Im März 2016 wurde eine entsprechende Motion eingereicht.
  • Kanton Neuenburg: Die Kantonsregierung wird im kommenden Jahr ihre Botschaft zur Initiative für eine obligatorische Zahnversicherung vorlegen. Das kantonale Volksbegehren wurde im August 2015 eingereicht.
  • Kanton Tessin: Eine entsprechende Initiative wurde im Mai 2015 eingereicht. Die Botschaft der Tessiner Regierung dazu ist in Bearbeitung.
  • Kanton Waadt: Eine Initiative für eine obligatorische Zahnversicherung wurde im Juli 2014 eingereicht. Sie wird Mitte 2017 mit einem Gegenvorschlag zur Abstimmung kommen.
  • Kanton Wallis: Die SP Valais Romand hat eine Initiative für eine obligatorische Zahnpflegeversicherung lanciert. Sie hat nun bis April 2017 Zeit, die nötigen Unterschriften einzureichen.

Die Initianten argumentieren, dass die Zahngesundheit ebenso wichtig sei wie die Humangesundheit. Zudem entstünden bei Nichtbehandlung von Zahnproblemen Folgeerkrankungen. Für viele Menschen und insbesondere für Familien in bescheidenen Verhältnissen seien Zahnbehandlungen ein unerschwinglicher Luxus. Am Zustand der Zähne lassen sich Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung und soziale Ungleichheiten ablesen. Es solle der Zugang zu neuen technischen Errungenschaften und zu einer zeitgemässen medizinischen Behandlung für alle möglich werden. Der völligen Privatisierung dieses Sektors müsse Einhalt geboten werden, denn somit überlasse man es einzig den Zahnärztinnen und Zahnärzten, die Bedürfnisse im Bereich der Zahngesundheit zu definieren. Im Folgenden werden wir diese Argumente genauer beleuchten. Sie erweisen sich allesamt als übertrieben. Nimmt man die Fakten genauer unter die Lupe, so präsentiert sich ein Erfolgsmodell.

Zahnmedizin

Hohes Niveau der Zahngesundheit in der Schweiz

Enorme Verbesserungen in den letzten Jahrzehnten

 untersuchten den Kariesverlauf über 45 Jahre in Zürcher Schulen. Erfreulicherweise konnten sie eine deutliche Verbesserung der Zahngesundheit beobachten: Entsprechende Krankheiten sind um vier Fünftel (80 Prozent) zurückgegangen! In erster Linie ist das Zähneputzen mit Fluorid-Zahnpasta für diese positive Entwicklung verantwortlich, in zweiter Linie das fluoridierte Salz.

Darüber hinaus scheinen auch die Verbreitung zuckerfreier Süssigkeiten und die Fortschritte in der Zahnmedizin einen positiven Einfluss auf die Zahngesundheit zu haben. Hingegen wird der Effekt der Schulprophylaxe von  als eher gering eingeschätzt. In anderen europäischen Ländern beobachte man ähnliche Verbesserungen in der Zahngesundheit mit deutlich weniger oder gar keiner Schulprophylaxe.

Auch innerschweizerisch könne man keine Unterschiede in der Zahngesundheit erkennen, obwohl in der Romandie die Schulzahnprophylaxe weit weniger verbreitet sei als in der Deutschschweiz. Allerdings basiert diese Untersuchung auf einer Rekrutenbefragung und schliesst die zugewanderte Bevölkerung aus. Trotzdem darf man annehmen, dass die Schulprophylaxe vor 40 Jahren eine grössere Bedeutung hatte als heute. Kurz: Das Zähneputzen ist für die Zahngesundheit entscheidend. Allerdings scheint ein gewisses Niveau an Zähneputzen zu genügen. 

Die Autoren dieser Studie vermuten, dass die verbesserte Zahngesundheit der 1980er-Jahrgänge auf die Fluoridisierung des Salzes zurückzuführen sei, von der jene Altersgruppe seit Geburt profitieren konnte. Nach Einführung des fluoridierten Salzes in den 1950er-Jahren nahm die Abdeckung nämlich kontinuierlich zu. Doch erst seit 1983 wird flächendeckend eine im Vergleich zu den Anfangszeiten erhöhte Dosierung von 250 Milligramm Fluoride pro Kilogramm Salz verwendet. Die Abdeckung ist kontinuierlich gestiegen und beträgt heute über 80 Prozent. (Bühler, Urs: Seit 50 Jahren fluoridiertes Speisesalz: Pioniertat im Kampf gegen Karies. In: «NZZ» vom 17. Oktober 2005.)

Grafik 1

Prozentanteil der 13-Jährigen, die ihre Zähne mehr als einmal pro Tag reinigen

aufgeteilt nach Geschlecht, 2009/2010 im Vergleich mit 2001/2002
World Health Organization

Prozentanteil der 13-Jährigen, die ihre Zähne mehr als einmal pro Tag reingien

Ein internationaler Spitzenwert in der Zahnreinigung führt zu einer guten Zahngesundheit – dies bestätigen Statistiken der OECD für die Schweiz. Als Indikator wird der sogenannte «DMFT-Index» bei 12-jährigen Kindern verwendet: Auf Basis von standardisierten Untersuchungen wird gemessen, wie viele Zähne entweder kariös sind («decayed»), aufgrund von Karies fehlen («missing») oder bereits eine Füllung haben («filled»). Dabei gilt ein Wert von unter 1.2 als sehr gut und dem entsprechenden Land wird ein hohes Niveau der Zahngesundheit attestiert. In diese Kategorie fällt unter anderem die Schweiz: Mit einem durchschnittlichen DMFT-Wert von 0.8 (im Jahr 2009) fällt der Index in etwa gleich hoch aus wie in Deutschland oder Grossbritannien (je 0.7) bzw. Schweden und Belgien (beide 0.9).

Grafik 2

DMFT-Index von 12-jährigen Kindern

in ausgewählten OECD-Staaten
OECD

DMFT-Index von 12-jährigen Kindern

Schweiz schneidet international gut ab

Das Angebot an international einheitlichen Erhebungen im Bereich der Zahngesundheit ist relativ klein. Die verfügbaren Statistiken beziehen sich nahezu ausschliesslich auf die Zahngesundheit von Kindern und Jugendlichen. Diese Daten weisen darauf hin, dass sich die Schweiz betreffend Zahngesundheit im internationalen Vergleich auf sehr hohem Niveau bewegt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) misst beispielsweise die Häufigkeit der individuellen Zahnpflege, was als wichtigstes Inputmass der Zahngesundheit gilt. – in keinem anderen Land wurde ein so hoher Anteil gemessen. Zwischen den Geschlechtern gibt es in allen untersuchten Ländern substanzielle Unterschiede. Mädchen reinigen die Zähne signifikant öfter als gleichaltrige Knaben. 

Erstes Zwischenfazit: Schweizer haben gute Zähne

Die verbesserte Zahngesundheit ist ein internationaler Trend, von dem auch die Schweiz profitiert. Sie zählt heute zu den Ländern mit der besten Zahnpflege und Zahngesundheit weltweit.

Zahnmedizin

Die zahnmedizinische Versorgung der Schweiz

Leistungen von Grundversicherung und Staat sind beschränkt

Die obligatorische Grundversicherung deckt zahnmedizinische Leistungen nur in einem sehr engen Rahmen ab. Übernommen werden fast ausschliesslich unverschuldet verursachte Zahnprobleme. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) erwähnt dabei konkret nicht-vermeidbare Erkrankungen des Kausystems, Zahnschäden in Folge von anderen Erkrankungen (z.B. Nebenwirkungen von Medikamenten) sowie Probleme nach Unfällen, sofern diese nicht durch eine Unfallversicherung gedeckt werden. Für alle anderen Behandlungskosten muss der Patient selbst oder die von ihm freiwillig abgeschlossene Versicherung aufkommen.

Neben den Diensten der Grundversicherung bieten zahlreiche Kantone für Kinder und Jugendliche im Rahmen der Schulzahnpflege weitere Leistungen an. Speziell in der Deutschschweiz sind Besuche von Zahnpflegeinstruktorinnen und -instruktoren in den Schulklassen weit verbreitet. Zusätzlich bieten einige Kantone – beispielsweise Zürich oder Basel-Stadt – für Kinder und Jugendliche jährlich eine kostenlose Zahnkontrolle in eigens dafür aufgebauten Schulzahnkliniken an. Darüber hinausgehende Leistungen werden für tiefe Einkommen teilweise subventioniert. Andere Kantone, beispielsweise Aargau oder Zug, bieten einen ähnlichen Service, verzichten jedoch auf den Betrieb von eigenen Kliniken. Stattdessen setzen diese auf ein Gutschein-System. Kinder erhalten die jährlichen Kontrollen gratis, unabhängig davon, welche private Zahnarztpraxis ihre Eltern wählen. Sich daraus ergebende zahnmedizinische Leistungen werden jeweils zum reduzierten Schulzahntarif in Rechnung gestellt, müssen jedoch individuell getragen werden.

Grafik 3

Finanzierungsregime in der ambulanten Gesundheitsversorgung im Vergleich zur Zahnmedizin

2013
bfs

Finanzierungsregime in der ambulanten Gesundheitsversorgung im Vergleich zur Zahnmedizin

Tiefe öffentliche Finanzierung – geringe Kostenentwicklung

Die geringe Abdeckung durch die obligatorische Grundversicherung widerspiegelt sich in den Zahlen des Finanzierungsregimes. Grafik 3 zeigt, dass im Unterschied zu ambulant getätigten, human-medizinischen Leistungen (inkl. Spitex, Physiotherapie usw.) die Kosten in sehr hohem Mass von den privaten Haushalten selbst getragen werden. Auch die Kostenerstattung via Zusatzversicherungen ist selten.

Grafik 4

Indexiertes Wachstum der Pro-Kopf Kosten für die Zahnmedizin

in Relation zum BIP pro Kopf und den übrigen Gesundheitskosten (nominal, 1995 = 100)
bfs

Indexiertes Wachstum der Pro-Kopf-Kosten für die Zahnmedizin

Kaum steigende Pro-Kopf-Ausgaben

Begünstigt durch die konservative Kostenübernahme der Versicherungen, fehlt in der Zahnmedizin der sogenannte «Moral Hazard»-Effekt (vgl. Box unten). Dadurch bildet sie kostenmässig eine erfreuliche Ausnahme: Die Pro-Kopf Ausgaben stiegen zwischen 1995 und 2013 nur halb so stark an wie im restlichen Gesundheitswesen. Um diese Kosten zu decken, muss ein Einwohner heute durchschnittlich fünf Prozent mehr arbeiten als vor zwei Jahrzehnten. Bei den übrigen Gesundheitskosten sind es hingegen 33 Prozent. Die Zahnmedizin ist wohl die einzige Versorgungskategorie, in der das Kostenwachstum sogar tiefer ausfiel als die Zunahme des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf.

Heute gibt die Schweiz pro Kopf und Jahr rund 490 Franken für zahnmedizinische Leistungen aus. Dies entspricht einem Anteil von etwa sechs Prozent an den gesamten Kosten des Gesundheitswesens. Die verbesserte Zahngesundheit hat viel zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. Ein ähnlicher Effekt fehlt in der Humanmedizin, obwohl sich die Volksgesundheit generell massiv verbessert hat. Häufig wird die Demografie als Argument für die steigenden Kosten in der Humanmedizin ins Feld geführt. Bloss im Pflegebereich, der neun Prozent der Grundversicherungskosten ausmacht, ist ein demografischer Effekt nachweisbar. Ein weiteres vermeintliches Argument für die hohe Dynamik der Ausgaben sind die Sterbekosten, also die Kosten in den letzten ein, zwei Lebensjahren. Aber auch sie haben mit einem Anteil von 10 bis 15 Prozent an den Grundversicherungskosten ein zu geringes Gewicht, als dass sie die Dynamik erklären könnten. Steigende Ansprüche an die medizinische Versorgung und die Gleichzeitigkeit von Krankheiten (Multimorbidität) erklären die Kostenentwicklungen besser. Häufig werden neue Behandlungsmethoden nicht als Ersatz für alte ausgeführt, sondern als Ergänzung. Durch die grosszügige Versicherungsdeckung werden dann nicht die effizientesten Lösungen gesucht, sondern die bequemsten und sichersten. Somit bieten die Finanzierungsmodelle eine plausible Erklärung für die unterschiedlichen Entwicklungen in der Zahnmedizin und in der übrigen Gesundheitsversorgung.

Tabelle 1

Mit Ausnahme des Tessins gibt es bezüglich der Dichte der zahnmedizinischen Versorgung keine markanten Unterschiede zwischen den Grossregionen.

Medizinische Versorgungsdichte in der Schweiz

pro Grossregion, 2014

Versorungsdichte pro 100 000 Einwohner

Trotz oder vielmehr wegen der fehlenden Regulierung verteilen sich die Zahnärzte im privaten Markt regelmässiger auf die Regionen als die Humanmediziner im Sozialversicherungsmarkt. Dies ist bemerkenswert, entspricht aber den Erwartungen vieler Ökonomen: In einem privaten Markt muss sich der Anbieter nach den Nachfragern richten, während in einem stark regulierten Markt sich die Anbieter in erster Linie nach den Regulierungen ausrichten und erst in zweiter Linie nach der Nachfrage.

Sozial gerechte Versorgung versus «Moral Hazard»

Aus volkswirtschaftlicher Sicht bewegt sich das System der Krankenversicherungen in einem permanenten Spannungsfeld zwischen sozial gerechter medizinischer Versorgung und dem Problem des «Moral Hazard». Letzteres bezeichnet das Phänomen fehlender Sparanreize. Bei einer externen Übernahme von Kosten, beispielsweise durch eine Krankenkasse, haben Patienten einen kleineren Anreiz, die Konsumation von ärztlichen Leistungen auf ein effizientes Niveau zu beschränken. Umgekehrt neigen auch die Erbringer von medizinischen Leistungen in einer solchen Situation dazu, teurere oder sogar nicht unbedingt notwendige Leistungen zu verschreiben.

Wie in der Zahnmedizin so steigt auch in der Humanmedizin der «Out-of-pocket»-Anteil nicht stärker als das Bruttoinlandprodukt. Das vergleichsweise tiefe Kostenwachstum in der Zahnmedizin kann deshalb zu einem wesentlichen Teil mit der tiefen Versicherungsdeckung und den daraus resultierenden Sparanreizen bzw. dem schwachen Auftreten des «Moral Hazard»-Problems erklärt werden.

Gleichmässige geografische Verteilung der Zahnärzte

Vergleicht man die Zahl der Ärzte mit jener der Zahnärzte pro Region, so erlebt man eine kleine Überraschung. Entgegen der landläufigen Meinung führt die staatliche Regulierung einer Branche nicht zu einer gleichmässigeren Verteilung des Angebots. Im Gegenteil: Die Humanmediziner verteilen sich ungleichmässiger auf die Regionen als die Zahnärzte. Die Differenz der Ärztedichte zwischen den Grossregionen ist bei den Zahnärzten bedeutend kleiner. So beträgt die Differenz zwischen tiefstem und höchstem Wert bei den Zahnmedizinern 36 Prozent und bei den Humanmedizinern 69 Prozent. Die Zahnarztdichte schwankt zwischen 47 und 64 pro 100‘000 Einwohner, jene der Humanmediziner zwischen 156 und 264. Die Schwankung ist in der Humanmedizin prozentual nahezu doppelt so gross wie bei der Zahnmedizin.

Zweites Zwischenfazit: gute Versorgung zu tiefen Kosten

Die Kosten der Zahnmedizin sind im Vergleich zum Wohlstand unterdurchschnittlich gestiegen. Neben der besseren Zahngesundheit hat das insbesondere mit dem sehr hohen Selbstzahleranteil zu tun. Denn auch in der Humanmedizin steigen die von den Privathaushalten selbst getragenen Kosten nicht stärker als das BIP. Die Regulierungsdichte ist in der Zahnmedizin viel kleiner als in der Humanmedizin. Trotzdem ist das Angebot gut und geografisch verteilen sich die Zahnärzte sogar ausgeglichener als andere Ärzte. Sie sind nämlich stärker auf den Goodwill ihrer Patienten angewiesen, weil ihre Rechnungen nicht von den Krankenkassen bezahlt werden. Organisation und Finanzierung haben sich in der Zahnmedizin als sehr nachhaltig erwiesen.

Zahnmedizin

Ungleichheit im Gesundheitsbereich

Je ärmer, desto ungesünder

Untersuchungen zur öffentlichen Gesundheit (Public Health) liefern stets die gleichen Resultate: Je weniger Einkommen, Vermögen und Bildung eine Person hat, desto kränker ist sie. Es existiert ein sogenannter sozialer Gradient. Die Kausalität ist gegenseitig: Kranke Personen können weniger Einkommen generieren und sind deshalb ärmer. Armut macht aber auch krank und ist assoziiert mit einem Verhalten, dass eher krank macht (vor allem schlechtere Ernährung und weniger Bewegung). Der soziale Gradient betrifft sowohl den allgemeinen Gesundheitszustand wie auch die Zahngesundheit. Eine amerikanische Studie hat den Zusammenhang zwischen der Gesundheit und dem sozialen Status von Erwachsenen analysiert. Als Datenquelle wurde eine grosse amerikanische Erhebung (NHANES III) benutzt. Dabei konnte sowohl für den allgemeinen als auch für den oralen Gesundheitszustand ein deutlicher sozialer Gradient ermittelt werden. Je geringer das Einkommen und die Bildung, desto schlechter ist nicht nur die persönlich empfundene, sondern auch die klinisch ermittelte Gesundheit. Interessant ist dieses Ergebnis, weil in den USA die zahnmedizinischen Leistungen viel schlechter vergütet werden als die humanmedizinischen. Medicare bezahlt gar nichts an die Zahnmedizin und Medicaid nur an Zahnarztbesuche der Kinder. Die Versicherungsdeckung variiert zudem von Staat zu Staat. Der soziale Gradient scheint somit unabhängig von der Versicherungsdeckung zu sein.

Sozialer Gradient trotz Sozialversicherung

Der innereuropäische Vergleich bestätigt diese Erkenntnis. In Deutschland ist der Zahnarztbesuch in der Sozialversicherung enthalten. Menschen mit tiefem Haushaltseinkommen werden also nicht wegen hoher Rechnungskosten abgeschreckt. Trotzdem beobachtet man auch hier einen starken sozialen Gradienten. Diverse Publikationen, z.B. Micheelis, Wolfgang: Zur Dynamik des sozialen Gradienten in der Mundgesundheit: Befunde aus 1997 und 2005. In: Prävention und Gesundheitsförderung, Vol. 4, Bd. 2/2009. S. 113-118. Eine Metaanalyse kommt zum selben Schluss. Als Verbesserung verlangt ein Experte die Genehmigung von fluoridiertem Speisesalz, eine bessere Aufklärung von Schwangeren, . Der gute finanzielle Zugang zu zahnärztlichen Leistungen in Deutschland vermag den sozialen Gradienten also nicht zu brechen. Es braucht andere Massnahmen.

Die Autoren beobachteten zudem einen Rückgang der sozialen Ungleichheit bezüglich Zahngesundheit zwischen 1992 und 2002. Das Gesundheitsverhalten trägt rund ein Drittel zur Ungleichheit bei, und zwei Drittel rühren von materiellen oder strukturellen Eigenschaften her. Der Einfluss des Einkommens wird etwas höher geschätzt als jener der Bildung. An den unteren Rändern ist der Einfluss am grössten: ganz tiefe Einkommen und ganz tiefe Bildung können unterschiedliche Gesundheit also am besten erklären. Je weiter man in die Mitte der Einkommensverteilung geht, desto weniger Erklärungswert hat das Einkommen für die Unterschiede.

Grafik 5

In der Schweiz sind die sozial bedingten Unterschiede punkto Zahnhygiene vergleichsweise schwach ausgeprägt.

Differenz in der Häufigkeit des mehrmals täglichen Zähneputzens

HSBC

Differenz in der Häufigkeit des mehrmals täglichen Zähneputzens

Zudem handelt es sich beim Zähneputzen um einen Inputfaktor. Bei Outputfaktoren, wie beispielsweise der DMFT-Index, wird leider nicht nach Wohlstandsniveau unterschieden. Deshalb lässt sich kein direkter internationaler Vergleich anstellen, wie stark der soziale Gradient ausgeprägt ist. Die Daten legen aber den Schluss nahe, dass der soziale Gradient in der Schweiz tief ist. Denn Input- und Outputfaktoren sind in der Zahngesundheit eng miteinander verknüpft, und beim Inputfaktor steht die Schweiz sehr gut da.

Drittes Zwischenfazit: Ungleichheit in Zahnmedizin nicht grösser

Gemäss Schweizer Studien ist der soziale Gradient in der Zahngesundheit tiefer als in der Humanmedizin. Analysen der Inputfaktoren (Zähneputzen) legen den Schluss nahe, dass auch im internationalen Vergleich der soziale Gradient in der Zahngesundheit bei uns tief ist. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in der Schweiz also vergleichsweise gering. Die Art der Finanzierung der zahnmedizinischen Leistungen spielt für den sozialen Gradienten offenbar kaum keine Rolle.

Zahnmedizin

Fazit: «If it ain’t broke, don’t fix it»

Die Zahnmedizin in der Schweiz ist eine Erfolgsstory. Die Zahngesundheit hat sich über die Zeit hinweg sehr positiv entwickelt, und auch international betrachtet schneidet die Schweiz gut ab. Den Vergleich mit der Humanmedizin, deren Leistungen von einer Sozialversicherung geprägt sind, braucht die Zahnmedizin nicht zu scheuen: Die sozialen Unterschiede sind kleiner, das Leistungsangebot ausgeglichener und die Kostenentwicklung markant tiefer. Das Beispiel der Zahnmedizin zeigt, dass Sozialverträglichkeit nicht an eine Sozialversicherung gebunden ist. Im Gegenteil. Eine starke Regulierung führt häufig zu neuen Verzerrungen und Ungerechtigkeiten. Die Politik tut gut daran, diese Erfolgsgeschichte zu erhalten und sich für andere Bereiche ein Beispiel an ihr zu nehmen.

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