# 4 / 2022
20.05.2022

Die Schweizer Wirtschaft und der Ukrainekrieg – wirtschaftliche und humanitäre Perspektiven

Humanitäres Engagement der Schweizer Unternehmen

Die Tragödie des Kriegs in der Ukraine zeigt uns allen die zentrale Bedeutung des Friedens. Sie unterstreicht aber auch, wie dringend und wichtig die humanitäre Hilfe in den betroffenen Gebieten und entlang der Flüchtlingsrouten ist. Es ist leider zu erwarten, dass diese Unterstützung auch mittel- und langfristig notwendig sein wird.

Eine erste qualitative Kurzumfrage von economiesuisse bei Mitgliedsunternehmen vom März 2022 bestätigt: Nebst dem Bund, Hilfsorganisationen und Privatpersonen engagieren sich auch Schweizer Firmen direkt. Konkret äusserten sich 28 Firmen aus allen relevanten Branchen zu ihrem humanitären Engagement im Kontext des Kriegs in der Ukraine. Die überwiegende Mehrheit der antwortenden Unternehmen – mittelständische Firmen und globale Konzerne – verfügt über eine Niederlassung in der Ukraine oder den umliegenden Nachbarstaaten.

Die Hilfsbereitschaft ist immens und dies nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch bei ihren Mitarbeitenden. Die Unterstützung erfolgt dabei einerseits in der Schweiz zugunsten der eingetroffenen Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten. Gemäss Daten des Staatssekretariats für Migration (SEM) vom 19. Mai 2022 wurden 50'328 Personen in der Schweiz registriert. Die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge läuft in vielen Fällen gut. Andererseits leisten die Unternehmen auch in der Ukraine und den umliegenden Grenzgebieten direkt Unterstützung für Mitarbeitende und die notleidende Bevölkerung.

Schweizer Unternehmen helfen mit Geld und Sachleistungen

Unternehmen, Mitarbeitende und Kunden unterstützen mit namhaften finanziellen Spenden. Diese werden entweder direkt an die Betroffenen vor Ort oder über Hilfsorganisationen, Stiftungen oder die Flüchtlingshilfe geleistet. Dabei beteiligen sich die Firmen nicht selten auch an Sammelaktionen, die durch die Mitarbeitenden selbst lanciert wurden. Ein oft vorkommendes Modell ist der sogenannte «Matching Fund»: Durch Mitarbeitende, Kunden oder die breite Bevölkerung geleistete Spenden werden von den sich beteiligenden Unternehmen verdoppelt oder verdreifacht. Dies erfolgt häufig über Stiftungen der Unternehmen. Dadurch entstehen nicht selten Beträge in Millionenhöhe. Basierend auf der Kurzumfrage von economiesuisse sind zwar keine Aussagen über das Spendenvolumen der gesamten Schweizer Wirtschaft möglich. Allein die befragten Firmen haben jedoch bisher über 27 Millionen Franken gespendet. Im Durchschnitt betragen die Spenden über eine Million Franken pro Unternehmen, das an der Umfrage teilgenommen hat.

Neben dem finanziellen Engagement liefern die Unternehmen verschiedenster Branchen zudem kontinuierlich und in grossem Masse selbst Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete. 44 Prozent der befragten Firmen helfen auch mit Sachspenden. Der Wert übersteigt die finanziellen Spenden dabei um ein Vielfaches. Zu den Sachspenden zählen etwa mehrere Millionen Packungen an Medikamenten und Diagnostika, Hunderte Tonnen Lebensmittel, Kleidung, Decken, Taschenlampen und mehr. Die Verteilung der Güter erfolgt teilweise durch eigene Mitarbeitende in den jeweiligen Niederlassungen oder über Hilfswerke und die Zivilbevölkerung vor Ort.

Unterstützung von Freiwilligenarbeit für humanitäres Engagement

Mehrere Unternehmen ermutigen ihre Angestellten auch zur Freiwilligenarbeit. Dies beinhaltet etwa den Empfang von Flüchtlingen zu Hause während der bezahlten Arbeitszeit oder zusätzliche Ferientage für das humanitäre Engagement. Im Bereich der Flüchtlingshilfe gaben zudem mehrere Unternehmen an, ungenutzte Firmengebäude und Gästewohnungen als Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Hinzu kommen neu geschaffene oder sich in Planung befindende Projekte, welche Schutzsuchende bei der Stellensuche, Ausbildung und Kinderbetreuung unterstützen. Berichtet wurde auch von spontanen Aktionen einzelner Mitarbeitender, indem beispielsweise Flüchtlinge in Firmenfahrzeugen aus den Grenzregionen an sichere Orte in den Nachbarstaaten gebracht wurden.

Hilfe für Mitarbeitende vor Ort

Aus Sicherheitsgründen mussten die Niederlassungen und Produktionsstätten zahlreicher Firmen in der Ukraine vorübergehend geschlossen werden. Die befragten Unternehmen sind jedoch bemüht, den ausreisewilligen Angestellten und ihren Familien bei der Flucht zu helfen. Mit Mitarbeitenden, die vor Ort bleiben müssen oder wollen, stehen die Unternehmen in ständigem Kontakt. Lohnauszahlungen werden aufrechterhalten und die Unternehmen unterstützen in materieller und finanzieller Form.

Jenen Mitarbeitenden, die in die Nachbarstaaten oder die Schweiz geflohen sind, stellen diverse Firmen Wohnraum zur Verfügung und es wird Unterstützung bei der Weiterführung der Arbeit im Nachbarstaat geboten. Auch ukrainischen Angestellten, die bereits vor Kriegsausbruch ausserhalb der Ukraine lebten, wird geholfen. Sie erhalten bei der Aufnahme von geflohenen Familienmitgliedern und Freunden Sachspenden und finanzielle Mittel von Mitarbeitenden und Vorgesetzten. In der Schweiz wie auch in den Grenzgebieten und vor Ort wurden zudem Angebote in Form von Unterstützungszentren und Hotlines eingerichtet, um die Betroffenen psychologisch zu begleiten.

Schweizer Wirtschaft hilft direkt – Fallbeispiele

Medikamente: Roche und Novartis

Als Soforthilfe unterstützte Novartis die drei humanitären Hilfsorganisationen «Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung», «Save the Children» sowie das «International Rescue Committee» mit einer ersten Spende von insgesamt drei Millionen US-Dollar. Zudem wurden bisher mehr als eine Million Packungen Antibiotika, Schmerzmittel, Herz-Kreislauf- und Onkologie-Medikamente im Wert von 25 Millionen US-Dollar für die medizinische Versorgung der Menschen in der Ukraine und den Grenzgebieten gespendet.

Roche spendete bereits 150’000 Packungen eines Antibiotikums sowie 4600 Packungen spezieller Arzneimittel, unter anderem für die Behandlung von Grippe und verschiedenen Krebsarten. Zudem spendete Roche Reagenzien und Verbrauchsmaterialien für die automatische Untersuchung von Blutspenden und das Diabetesmanagement. Zusätzlich unterstützen Roche-Mitarbeitende in den Ländergesellschaften die Ukraine sowie Flüchtlinge aus der Ukraine mit spezifischen Hilfsangeboten.

Nahrungsmittel: Nestlé

Nestlé engagiert sich aktiv für die Menschen in der Ukraine. Jede Woche liefert das Unternehmen Grundnahrungsmittel wie Wasser, Babynahrung, Suppen oder Nudeln im Wert von mehr als einer Million Schweizer Franken. Bisher wurden über 50 Millionen Portionen zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig versucht Nestlé den örtlichen Betrieb so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Gemäss Nestlé können derzeit 60 Prozent des Vorkriegsvolumens bereitgestellt werden.

Nestlé-Mitarbeitende auf der ganzen Welt stehen zusammen, zeigen Solidarität und spenden gemeinsam an die Internationale Föderation des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. Der gespendete Gesamtbetrag für die Ukraine wird von Nestlé verdoppelt. In einigen Ländern nehmen Nestlé-Mitarbeitende Personen auf, die aus der Ukraine geflohen sind. Ausserdem initiieren und beteiligen sich viele Mitarbeitende in verschiedenen Ländern an lokalen Hilfsmassnahmen. So konnten die Angestellten vor Ort, mithilfe von Verteidigungspersonal und Freiwilligen, über 140 Tonnen Instantprodukte zu den Schutzsuchenden in Kharkiv bringen. 100 Palette mit dringend benötigten Nahrungsmitteln werden jeden Tag von Nestlé an die Bedürftigen vor Ort geliefert.

Unterstützung von Mitarbeitenden vor Ort: Dätwyler

Die Dätwyler Holding AG beschäftigt an ihrem Produktionsstandort in der Ukraine ungefähr 100 Mitarbeitende. Unmittelbar nach Kriegsbeginn musste der Betrieb eingestellt werden. Das Unternehmen steht in täglichem Kontakt mit den Standortverantwortlichen und kann bislang die laufenden Gehaltszahlungen sicherstellen. Finanziell unterstützt wurden die Mitarbeitenden vor Ort durch die Auszahlung von drei Monatsgehältern im März.

Ehemalige und aktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben den Verein help4Ukraine gegründet. Der Verein unterstützt mithilfe von Firmenressourcen Dätwyler-Mitarbeitende in Malyn sowie deren Familien. Anfang April führte der Verein eine Sammelwoche an allen Dätwyler-Standorten weltweit durch. Dabei kam ein Betrag von 54'322 Franken zusammen. Die Firma Dätwyler wird diesen durch die Mitarbeitenden gespendeten Betrag auf 110'000 Franken verdoppeln.

Soforthilfe und Unterstützung des Wiederaufbaus: Weidmann

Das Schweizer Industrieunternehmen Weidmann mit den Geschäftsfeldern Elektrotechnik und Medizintechnik hat auch ein Werk in der Ukraine. Dort sind rund 600 Mitarbeitende angestellt. Bei Ausbruch des Kriegs musste die Produktion unterbrochen werden. Die Löhne wurden weiterbezahlt. In der ersten Phase hat das Unternehmen seine Mitarbeitenden unterstützt, wenn diese zu Familienangehörigen in Nachbarländern ausreisen wollten. Auch konnten Anstellungen bei den Niederlassungen in den umliegenden Nachbarländern ermöglicht werden. Unterdessen konnte die Produktion teilweise wieder aufgenommen werden und die meisten Mitarbeitenden sind zurückgekehrt. Die Firma unterstützt auch die Standortgemeinde selbst. Hierzu wurde ein Verein gegründet. Dabei steht im Anschluss an die Soforthilfe die Unterstützung des Wiederaufbaus nach Kriegsende im Fokus.

Flüchtlinge in der Schweiz und in Europa: Zurich und Z Zurich Foundation

Die Z Zurich Foundation lancierte eine weltweite Spendenkampagne zur Unterstützung der Opfer der Krise. Sie sammelte zwei Millionen Franken (inklusive dem Matching der Z Zurich Foundation) für das «International Rescue Committee», das «Internationale Komitee vom Roten Kreuz» und «Save the Children». Hinzu kommen über 20 Spenden an lokale und internationale Organisationen. Des Weiteren sammelt die Z Zurich Foundation Mittel für Programme zur psychologischen Unterstützung junger Flüchtlinge.

In der Stadt Zürich wurden im Zurich Development Center Räume und Infrastruktur für Integrations- und Sprachkurse für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Zurich hilft den Flüchtlingen, sich auf dem Schweizer Arbeitsmarkt zurechtzufinden und kooperiert mit den lokalen Behörden bei der Arbeitsintegration mit dem Ziel, ukrainische Flüchtlinge einzustellen. In Barcelona, Bratislava und Krakau versucht Zurich, offene IT-Stellen mit Ukrainerinnen und Ukrainern zu besetzen.

In ganz Europa nutzen Mitarbeitende bezahlte Freiwilligenarbeitstage, um humanitäre Projekte zu unterstützen. Zurich hat die Anzahl der Freiwilligenarbeitstage in vielen europäischen Ländern erhöht. Für Mitarbeitende und ihre unmittelbaren Familienangehörigen, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, hat die Z Zurich Foundation ein Gutscheinsystem eingerichtet, um Gästen beim Kauf von Lebensmitteln, Kleidung und anderen lebensnotwendigen Dinge zu helfen.

Viele weitere Schweizer Firmen engagieren sich im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg humanitär. So haben sich zahlreiche Unternehmen zum Beispiel auf den Spendenaufruf der Glückskette gemeldet, wie auf ihrer Webseite ersichtlich ist.

Auch wenn die weitere Entwicklung im Ukrainekrieg nur schwer vorhersehbar ist, scheint klar, dass mit zunehmender Dauer auch die Bedürfnisse und Herausforderungen der betroffenen Bevölkerung ändern – und gar zunehmen – werden. Ein langer Atem wird daher auch für humanitäre Unterstützung nötig sein.

Gelten humanitäre Grundsätze auch für die Zivilbevölkerung des Aggressors?

Das humanitäre Völkerrecht schützt auch die Zivilbevölkerung des Aggressors – in diesem Fall die russische Bevölkerung. Es stellt sich daher die Frage, wie die Sanktionsmassnahmen gegen die russische Wirtschaft ausgestaltet werden sollten, um diesen humanitären Grundsatz einzuhalten. Hierbei gibt es aber ein Dilemma.

So ist einerseits klar, dass lebensrettende Medikamente oder die Grundversorgung mit Nahrung als humanitäre Güter zu betrachten sind. Die Lieferungen humanitärer Güter sollten daher nicht vollständig unterbunden werden. Die Herausforderung besteht jedoch darin, dass diese nicht in die Hände der Regierung geraten dürfen. Denn in diesem Fall könnte die Regierung die humanitären Güter auch den kriegsführenden Truppen abgeben. Bei der Lieferung werden daher spezielle Verteilkanäle eingerichtet, um sicherzustellen, dass sie nur der Zivilbevölkerung zur Verfügung gestellt werden.