# 15 / 2019
06.11.2019

Sammelklagen: kaum Nutzen, viele Gefahren

Bestehende Instrumente und Optimierungspotenzial

Angesichts der vorgeschlagenen, möglicherweise erheblichen Anpassungen im Schweizer Rechtssystem sowie den damit verbundenen zahlreichen Unsicherheiten und Risiken sollen die bereits bestehenden Rechtsmittel kurz dargestellt werden. Diese ermöglichen schon heute, die im Zusammenhang mit kollektivem Rechtsschutz typischerweise vorkommenden Anspruchstypen durchzusetzen (darunter insbesondere auch Streuschäden). Hinzu kommt, dass – neben den im VE-ZPO vorgesehenen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes – auch die Voraussetzungen der einfachen Streitgenossenschaft und der objektiven Klagenhäufung modifiziert werden sollen. Dadurch sollen die den Klägern bereits heute zur Verfügung stehenden Instrumente nochmals signifikant verbessert werden.


Bei der Globalabtretung treten die Gläubiger ihre Rechtsansprüche an einen Dritten ab, der dann in seinem eigenen Namen den Prozess führt.

Abbildung 3

Funktionsweise der Globalabtretung

eigene Darstellung

Subjektive Klagenhäufung

Ein weiteres Instrument ist die subjektive Klagenhäufung. Bei dieser schliessen sich mehrere Betroffene zusammen und klagen gemeinsam vor dem gleichen Gericht. Die subjektive Klagenhäufung ist auch als Streitgenossenschaft bekannt. Auch hier sieht der Vorentwurf bereits Vereinfachungen zugunsten der Kläger vor, da die subjektive Klagenhäufung neu selbst dann eingesetzt werden kann, wenn nicht alle Ansprüche der gleichen Verfahrensart unterliegen.


Bei der subjektiven Klagenhäufung schliessen sich mehrere Betroffene zusammen und klagen gemeinsam vor dem gleichen Gericht.

Abbildung 4

Funktionsweise der subjektiven Klagenhäufung

eigene Darstellung

Erfolgshonorare

Das anwaltliche Standesrecht lässt es heute zu, dass ein Teil des Honorars auf Basis des tatsächlich erzielten Erfolgs ausbezahlt wird. Damit lässt sich das Prozessrisiko zum Teil vom Geschädigten zum Anwalt verschieben, der sehr gut in der Lage ist, dieses Risiko einzuschätzen. Nur die Vereinbarung der reinen Beteiligung am Prozessgewinn ist verboten. Ein Anwalt, der einen Fall anvertraut erhält, kann folglich einen Teil seines Honorars vom Erfolg abhängig machen und finanzschwachen Klägern entgegenkommen. Besonders attraktiv wird dies, wenn er mehrere Kläger gemeinsam vertreten kann (vgl. Box unten).

Muster-/Testklage

Bei einer Muster- oder Testklage klagt ein einzelner Betroffener – mit oder ohne Unterstützung eines Verbands – auf Ersatz seines Schadens. Das Ergebnis können dann andere Betroffene nutzen, um ihren Schaden geltend zu machen. Ein Beklagter, der bereits im Testverfahren unterlegen ist, wird es in der Regel nicht auf weitere Klagen ankommen lassen und Hand für Vergleiche bieten.

Technologische Entwicklungen oder die Macht der Masse

Legal Tech-Entwicklungen der letzten Jahre erleichtern potenziellen Klägern die Bündelung von Klagen. Die «Macht der Masse im Internet» sowie die Entwicklung neuerer Technologien dürften die Rechtsdurchsetzung auch kleinerer Forderungen für eine Vielzahl potenzieller Kläger künftig stark begünstigen (vgl. einige ausgewählte Stichworte hierzu als Beispiele: Blockchain, Distributed Ledger, Social Media, Forderungssammlungsplattformen, Rechtsdurchsetzungsgesellschaften, Finanzierungsmodelle und Unterstützung von Verfahren bei Massenschäden.

Mit Einführung des kollektiven Rechtsschutzes. in der Schweiz wäre auch mit Ablegern von US-amerikanischen Rechtsanwaltskanzleien zu rechnen. Diese könnten auf Onlineplattformen vermeintliche Schadenersatzansprüche von Verbrauchern sammeln, um sie – finanziell unterstützt von Prozessfinanzierern – gegen Unternehmen geltend zu machen.

Weitere Verfahrensmöglichkeiten zur geschickten Vorbereitung des Zivilprozesses

Das Zivilprozessrecht bietet weitere Lösungen für Probleme im Zusammenhang mit der kollektiven Geltendmachung von Ansprüchen an. Bei der Geltendmachung von Massenschäden ist oft der Einwand zu hören, dass der Einzelne ein zu hohes Prozessrisiko trage, da er im Falle eines Unterliegens seine Kosten, diejenigen des Gerichts und zum Teil diejenigen der Gegenseite zu tragen hat. Hier bietet ihm das Zivilprozessrecht die Möglichkeit der Teilklage. Diese garantiert jedem Kläger die Befugnis, lediglich einen Teil seines Anspruchs einzuklagen, womit ein geeignetes Mittel zur Abdämpfung des Prozessrisikos zur Verfügung steht. Schliesslich gibt es in Bezug auf die Verfahrenskoordination weitere Möglichkeiten. So kann ein Gericht selbstständig eingereichte Klagen vereinigen oder bei zusammenhängenden Verfahren an ein bereits befasstes Gericht überweisen.

Ombudsstelle

Eine Ombudsstelle hat die Aufgabe einer unparteiischen Schiedsstelle. Banken, Versicherungen, Telekommunikation, Tourismus und zahlreiche weitere Branchen kennen alle Ombudsstellen. Deren Aufgabe ist es, ein effizientes, kostengünstiges oder für Geschädigte gar kostenloses Verfahren zur Verfügung zu stellen, damit Streitigkeiten aus der jeweiligen Branche schnell geschlichtet werden können. Die zahlreichen privaten Ombudsstellen zeichnen sich durch vertiefte Branchenkenntnis und hohe Effizienz aus. Soweit jemand mit dem Ausgang eines Ombudsverfahrens nicht einverstanden ist, steht es ihm offen, an ein ordentliches Gericht zu gelangen. Gerade bei kleineren Forderungen sind Ombudsverfahren das ideale Mittel, einen Anspruch überprüfen zu lassen. Die Ombudsverfahren dürfen jedoch nicht verstaatlicht oder strengen Verfahrensordnungen unterworfen werden, da sie sonst nicht mehr richtig funktionieren.

Kein Mittel gegen Desinteresse

Wie dargestellt, bestehen bereits heute zahlreiche Möglichkeiten, die Interessen ganzer Personengruppen geltend zu machen oder auch mit vertretbaren Risiken Streu- oder Massenschäden einzufordern.

Es gibt kein zivilprozessuales Mittel gegen das Desinteresse eines Klägers, einen geringfügigen Betrag einzufordern. Es macht auch keinen Sinn, wenn der Staat Personen quasi dazu zwingt, einen für sie offensichtlich belanglosen Schaden dennoch einzufordern. Nutzniesser sind hier zum Nachteil des Wirtschaftsstandorts auf internationaler Ebene lediglich die Interessenvertreter, Anwälte und andere Organisationen, nicht jedoch die Betroffenen selbst. Diese sind vielmehr die Leidtragenden, da ihnen über steigende Preise schliesslich die Kosten überwälzt werden. Zudem würde dadurch auch eine in unseren Breitengraden unerwünschte Streitkultur gefördert.