# 15 / 2016
21.12.2016

Brexit und die Schweiz

Grossbritannien und die EU am Scheideweg

Schwierige Neuordnung der vielfältigen Beziehungen Grossbritanniens

Mit dem Abstimmungsergebnis vom 23. Juni 2016 steht Grossbritannien vor der Herausforderung, seine vertraglichen Beziehungen zur Welt in vielen Bereichen neu zu ordnen. Die wichtigste Aufgabe ist dabei klar die Regelung des zukünftigen Verhältnisses der Insel zur EU. Beide sind durch ein komplexes Gemisch an teilweise geteilten Kompetenzen und umfangreichen Transferzahlungen eng miteinander verbunden. Dieses müssen die beiden Parteien nun wieder entflechten. Die EU-Rechtsakte (Acquis) umfasst derzeit rund 85’000 Seiten. Fragen der Handels-, Wettbewerbs- und Währungspolitik (EU-Zuständigkeit) spielen dabei ebenso eine Rolle wie gemischte Zuständigkeiten in Bereichen wie Landwirtschaft und Fischerei, Verkehr, Sozialpolitik oder Umwelt. Dabei haben sowohl die einzelnen britischen Regionen wie auch die EU-Mitgliedstaaten je nach Politikbereich unterschiedliche Interessen und Prioritäten.

Der EU-Acquis garantiert den Mitgliedstaaten beispielsweise im Luftverkehr den diskriminierungsfreien Zugang zu anderen EU-Staaten. Wie dieser Zugang im Detail geregelt wird (z.B. Flugplan, Slots), obliegt wiederum der nationalen Zuständigkeit.

Grafik 2

Mit dem Brexit muss Grossbritannien auch seine Beziehungen mit der EU entflechten. 

Aus der Perspektive der Aussenwirtschaft ist insbesondere die gemeinsame Handelspolitik aller EU-Staaten zu erwähnen, die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt wird (Art. 207). Verantwortlich für diesen Bereich (z.B. Abschluss von Freihandelsabkommen) sind grundsätzlich die EU-Institutionen, wobei dies uneingeschränkt nur für den Warenverkehr gilt. Im Bereich der Dienstleistungen und des Geistigen Eigentums etwa liegt eine gemischte Kompetenz vor, das heisst die EU und die Mitgliedsländer teilen sich die Zuständigkeit. Die volle Kompetenz über ihre Handelspolitik erlangt Grossbritannien somit erst nach erfolgtem Austritt aus der EU zurück.

Zu diesem Zeitpunkt entfallen auch gewisse Subventionen der Landwirtschaft. Weiter wird zwischen Irland und Nordirland eine neue EU-Aussengrenze entstehen, die entsprechend überwacht werden muss. Auch muss wieder ein eigenes Zollregime eingeführt werden, sofern das Vereinigte Königreich nach dem Brexit nicht als Drittstaat der Zollunion beitritt. Die Insel verfügt zudem noch über namhafte finanzielle Verpflichtungen gegenüber der EU, die gemäss unterschiedlichen Berechnungen auf gesamthaft bis zu 60 Milliarden Pfund geschätzt werden. Diese sind im Falle eines Austritts weiterhin zu erfüllen. Darunter fallen etwa mehrjährige Zusagen zum EU-Haushalt, Pensionskassengelder der Verwaltung oder Infrastrukturprojekte.

Angesichts dieser vielen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, die während der Austrittsverhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien angegangen werden müssen, erscheint die zur Verfügung stehende Zeit äusserst knapp. Gut möglich, dass in gewissen Regulierungsbereichen deshalb kurzfristig Übergangslösungen ausgehandelt werden (Grandfathering).

Auch Beziehungen zu Drittstaaten sind vom Austritt betroffen

Der Austritt Grossbritanniens wird auch auf deren Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und die Handelsbeziehungen zu wichtigen Drittstaaten weitreichende Konsequenzen haben. Die EU verfügt derzeit mit rund 50 Staaten über Freihandels- oder Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, unter anderem auch mit der Schweiz. Weitere werden derzeit ausgehandelt (z.B. Japan). Darunter finden sich viele der wichtigsten Import- und Exportpartner Grossbritanniens.

Mit dem Austritt aus der EU drohen für Grossbritannien sämtliche durch die EU ausgehandelten Sonderkonditionen mit Drittstaaten, von welchen auch britische Unternehmen profitieren, hinfällig zu werden. Die britische Regierung muss sich deshalb auf eine Vielzahl an Verhandlungen einstellen, wenn sie die Bedingungen bezüglich Marktzugang zu den wichtigen Handelspartnern für ihre Unternehmen weiterhin erhalten will. In diesem Zusammenhang wurde bereits angekündigt, dass mit mehreren Staaten rasch Gespräche über ein Freihandelsabkommen begonnen werden sollen.

Fragezeichen bei der WTO-Mitgliedschaft

Eine weitere Aufgabe stellt sich dem Vereinigten Königreich – und allenfalls auch der EU – mit Blick auf die WTO. Zwar sind sowohl die Europäische Union selbst wie auch jeder ihrer (noch) 28 Mitgliedstaaten eigenständig in der WTO vertreten. Es ist jedoch die EU, die im Namen ihrer Mitglieder innerhalb der WTO Verpflichtungen eingeht (z.B. Zolltarife, Quoten, Subventionsrahmen der Landwirtschaft). Nach dem Austritt aus der EU muss Grossbritannien entsprechend seine eigenen Bedingungen der WTO-Mitgliedschaft mit den übrigen 163 Mitgliedstaaten aushandeln. Denkbar ist, dass Grossbritannien in einem ersten Schritt anstrebt, die Verpflichtungen der EU möglichst identisch zu übernehmen. Ein einmal ausgehandeltes Ergebnis muss letztendlich von der WTO (Zweidrittelmehrheit der Mitglieder) und vom britischen Parlament genehmigt werden. Dieser Prozess könnte äusserst konfliktbeladen sein und allenfalls auch zu neuen Forderungen und politischen Druckversuchen anderer WTO-Mitglieder führen. Ebenso denkbar ist aber auch, dass bei einer nahtlosen Übernahme der bisherigen Verpflichtungen ein stark verkürztes Verfahren angewendet wird. So gäbe es ohne Änderungen der Verpflichtungen auch keine Notwendigkeit von Verhandlungen.

Auch für die EU selbst besteht ein gewisses Risiko, dass ihre Verpflichtungen mit dem Brexit unter Druck kommen. So könnte Artikel 62 der Wiener Vertragskonvention, der sich auf eine «grundlegende Änderung der beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände» bezieht (z.B. Verlust von fast 18 Prozent der EU-Wirtschaftskraft), die EU zwingen, ihre Verpflichtungslisten gegenüber den übrigen WTO-Mitgliedstaaten anzupassen und allenfalls weitergehende Konzessionen einzugehen. Wie hürdenreich sich die Verhandlungen innerhalb der WTO für die EU und Grossbritannien gestalten, wird somit unterschiedlich beurteilt. 

Auswirkungen auf weitere internationale Organisationen

Nebst der WTO könnten grundsätzlich noch andere internationale Organisationen betreffend ihrer Mitgliederstruktur durch den Brexit betroffen sein. Sowohl im IWF, der Weltbank wie auch in der OECD ist Grossbritannien jedoch bereits heute als Nationalstaat Mitglied. Ein Austritt aus der EU ändert also nichts bei den Entscheidungsprozessen. Dies lässt den vorläufigen Schluss zu, dass die institutionellen Auswirkungen eher gering sein dürften.

Denkbar ist hingegen, dass Grossbritannien als Nicht-EU-Mitglied in multilateralen Gremien seine Positionen teilweise anpassen könnte. So kann Grossbritannien im IMF, der OECD oder auch bei den G-20 künftig eine von der EU unabhängige Position einnehmen. Wie weit hier Grossbritannien gehen wird, hängt natürlich auch von der Ausgestaltung der Beziehungen zur EU ab. Somit ergeben sich durch Brexit potenzielle Rückkopplungen auf die internationale Kooperation im Rahmen der wichtigsten internationalen Organisationen und Gremien.

Offener Ausgang der Austrittsverhandlungen

Nach dem Volksentscheid der britischen Stimmbürger vom 23. Juni kommt der sogenannte Artikel 50 des Vertrags von Lissabon erstmals zur Anwendung – bevor eigentliche Austrittsverhandlungen beginnen. Gemäss diesem Artikel kann «jeder Mitgliedstaat […] im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschliessen, aus der Union auszutreten». Zur Aktivierung des damit verbundenen Prozesses hat das austretende Mitglied den Europäischen Rat zu informieren. Noch ist nicht entschieden, ob die britische Regierung hierfür nebst dem (formell konsultativen) Volksentscheid einen Beschluss des Parlaments benötigt. Zwar hat dies der High Court bestätigt, die Regierung hat jedoch Berufung eingelegt. Mit einem Urteil des Supreme Courts ist im Januar 2017 zu rechnen.

Ist Artikel 50 einmal aktiviert, gibt es grundsätzlich kein Zurück mehr. Eine Fristverlängerung bedarf der Zustimmung aller verbleibenden EU-Mitglieder. Die EU legt für ihre Verhandlungsposition die Leitlinien ohne den Einbezug von Grossbritannien fest. Dabei kann es etwa um den effektiven Zeitpunkt des Austritts, Übergangsfristen, aber auch um den zukünftigen Vertragsstatus (z.B. Marktzugang, Personenfreizügigkeit, Sicherheit oder Justiz) der Insel gehen. Das einmal ausgehandelte Austrittsabkommen muss vom britischen Parlament, von mindestens 20 der noch verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten sowie vom EU-Parlament genehmigt werden. Mit Blick darauf sprechen EU-Vertreter bereits von einer noch kürzeren eigentlichen Verhandlungszeit (bis Oktober 2018). Verträge, die das zukünftige Verhältnis zu Grossbritannien betreffen, bedürfen sogar der Zustimmung aller verbleibenden EU-Mitgliedstaaten.

Kommt während der Zweijahresfrist kein Austrittsvertrag zustande, scheidet Grossbritannien automatisch und ohne Abkommen aus der EU aus. In Bezug auf den Aussenhandel hätte dies einen Rückfall auf bestehendes WTO-Recht und auf Verträge zur Folge, die noch vor dem Beitritt zur EU abgeschlossen wurden. Letztere genügen mittlerweile den heutigen Anforderungen grösstenteils nicht mehr. Für die Wirtschaft wäre dieses Szenario deshalb mit grosser Rechtsunsicherheit verbunden. Dies auch deshalb, weil gemäss Lissabonner Vertrag vor dem eigentlichen Brexit auch keine Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen beider Partner beginnen können.

Grafik 3

Kommt während den zweijährigen Verhandlungen kein Austrittsvertrag zustande, scheidet Grossbritannien automatisch und ohne Abkommen aus der EU aus.

Welche Lösung wählen Grossbritannien und die EU?

Für Grossbritannien wird die EU auch nach einem Austritt auf absehbare Zeit hin der wichtigste Partner bleiben. Weder Grossbritannien noch die EU haben sich bisher jedoch offiziell zu konkreten Verhandlungszielen geäussert. Zudem existieren auch EU-intern unterschiedliche Ansichten betreffend der gegenüber dem Vereinigten Königreich einzunehmenden Haltung. Einigkeit herrscht derzeit hingegen bezüglich der vier Grundfreiheiten im Zugang zum EU-Binnenmarkt: Die Freizügigkeit von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital sei nur im Gesamtpaket zu haben.

Bereits im Vorfeld der Abstimmung vom 23. Juni 2016 hat die britische Regierung ihrerseits fünf mögliche Szenarien präsentiert und analysiert. Hierbei handelt es sich realistischerweise aber primär um grobe «Landezonen». Keines der diskutierten Modelle vermag im Vergleich zur EU-Mitgliedschaft einen gleichwertigen Zugang zum Binnenmarkt zu sichern. Verhandlungen sind jedoch stets dynamisch. Gut möglich also, dass dabei auch neue oder kombinierende Lösungen auftauchen. Die verschiedenen Optionen liefern jedoch wichtige Anhaltspunkte zu möglichen Vor- und Nachteilen der einen oder anderen «Landezone» (z.B. politische Souveränität vs. Marktzugang). In jedem Fall werden die kurze Verhandlungsfrist und die drohende Rechtsunsicherheit angesichts eines vertragslosen Zustands für beide Partner zwei der grossen Herausforderungen sein.

Fünf mögliche Szenarien

Brexit als «Game Changer»?

Die aufgezeigten Szenarien berücksichtigen allfällige institutionelle Änderungen in der EU nicht. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Grossbritanniens sind jedoch Reformen innerhalb der EU als Folge des Brexit vorstellbar.

Innerhalb und ausserhalb der EU gibt es hierzu unterschiedliche Ansätze. Die Vorschläge reichen von der Beschleunigung bereits bestehender Projekte bis zu einer grundlegenden Neugestaltung von Rechten und Pflichten innerhalb der EU (z.B. Mehrkreismodell mit unterschiedlichen Integrationsstufen und Mitbestimmungsrechten). Sollte sich die EU tatsächlich für tief greifende Reformen entscheiden, ist denkbar, dass sich dadurch auch die Rolle der EFTA entscheidend verändern wird – allenfalls auch mit einer Mitgliedschaft Grossbritanniens.