# 9 / 2017
28.11.2017

Strukturwandel in der Schweiz: Fakten und Wahrnehmung

Der Arbeitsmarkt: ständig in Bewegung

Die bisherige Analyse hatte einen langfristigen Horizont von mehr als 100 Jahren. Es zeigte sich, dass die Zahl der Erwerbstätigen kontinuierlich gestiegen ist. Doch die langfristige Betrachtung überdeckt die hohe Dynamik des Strukturwandels innerhalb eines Jahres, innerhalb und zwischen den Branchen. Deshalb haben wir die Dynamik des Arbeitsmarkts anhand der Statistik der Unternehmensstruktur STATENT des Bundesamts für Statistik (BFS) für das Jahr 2015 analysiert. Dieses Jahr eignet sich auch deswegen hervorragend, weil an dessen Anfang die Schweizerische Nationalbank die Wechselkursuntergrenze gegenüber dem Euro aufgegeben hat. Der Frankenschock hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem Technologieschock: Er zwingt zu Strukturanpassungen und zu Innovation. Allerdings vollzieht er sich im Gegensatz zur technologischen Entwicklung viel rascher. Wie viele Stellen wurden nun tatsächlich 2015 zerstört und geschaffen?

Die Auswertungen zeigen, dass im Jahr 2015 in der Schweiz 460’296 Stellen abgebaut wurden. Dies entspricht etwa 9,1 Prozent der gesamten Beschäftigung. Anders ausgedrückt sind pro Monat rund 38’400 und pro Tag über 1250 Jobs verschwunden. 168’663 der insgesamt 460’296 abgebauten Stellen wurden durch Firmenschliessungen verursacht, was einem Anteil von 36,6 Prozent entspricht. Die restlichen 63,4 Prozent (291'633 Stellen) gehen zulasten von bestehenden Unternehmen. Diese beeindruckenden Zahlen scheinen zu zeigen, dass der Frankenschock auf den Arbeitsmarkt sehr gravierende Konsequenzen zeitigte. Für die exportierende Branche stimmt diese These sicherlich, doch aggregiert betrachtet sind im selben Zeitraum auch 492’604 Stellen geschaffen worden, was etwa 9,8 Prozent der gesamten Beschäftigung entspricht. Pro Monat sind das rund 41’000 und pro Tag etwa 1350 neue Arbeitsplätze. Von den neu geschaffenen Stellen entfielen 184'189 (37,4 Prozent) auf neue Unternehmen, während bestehende Unternehmen 308’415 (62,6 Prozent) Stellen aufgebaut haben.

Die Analyse zeigt also eine ausgesprochen hohe Dynamik von Stellenabbau und Stellenaufbau. Durchschnittlich wurden 2015 zwar mehr als 1000 Stellen pro Tag abgebaut, aber noch mehr Stellen wurden geschaffen. Doch diese Zahlen unterschätzen die Dynamik des Arbeitsmarkts sogar aus zwei Gründen. Erstens basieren die Auswertungen lediglich auf den Veränderungen des Mitarbeiterbestands der Unternehmen innerhalb eines Jahres. Daher werden Beschäftigungsformen, die kürzer als ein Jahr dauern, nicht erfasst. Zudem bleiben Stellenrestrukturierungen innerhalb eines Unternehmens unberücksichtigt, da sie sich nicht aufs Beschäftigungssaldo auswirken. Wie die Wissenschaft darlegen konnte, dürfte die tatsächliche Dynamik etwa 50 Prozent über dem gemessenen Wert mit der hier angewandten Methodik liegen. Überträgt man diese Überlegungen auf unsere Statistik, bedeutet dies, dass im Jahr 2015 rund 15 Prozent der Stellen oder pro Tag rund 2000 Stellen neu geschaffen wurden.

Nun stellt sich die Frage, ob das Jahr 2015 eine Ausnahmesituation darstellt, die eine ungewöhnlich hohe Dynamik aufweist. Vergleichen wir dazu die Schweiz im Zeitablauf und mit anderen Ländern. Einen Hinweis über die Dynamik auf den Arbeitsmärkten gibt eine OECD-Statistik, welche die Dauer der aktuellen Beschäftigung misst. Diese Statistik wird aus Arbeitnehmersicht erstellt. Sie verdeutlicht, dass in der Schweiz 2015 751'000 Personen seit weniger als einem Jahr ihrer aktuellen Tätigkeit nachgingen. Dies entspricht 16,3 Prozent aller Erwerbstätigen. Zwischen 2000 und 2016 bewegte sich dieser Anteil zwischen 13,7 und 16,4 Prozent. Mit anderen Worten stellt das Jahr 2015 keinen Ausreisser dar, sondern zeigt ein Jahr mit hoher, aber nicht aussergewöhnlicher Dynamik.

Wie steht die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern bezüglich Dynamik da? Während in skandinavischen Staaten die Rotationsziffer noch höher liegt, ist sie bei den südeuropäischen Ländern teils deutlich tiefer. So gaben 2015 in Dänemark 21 Prozent aller Arbeitnehmenden an, die aktuelle Stelle seit weniger als einem Jahr zu besetzen. Für Schweden betrug dieser Wert 19,6 Prozent. Unsere Nachbarn Deutschland (13,0 Prozent), Frankreich (12,6 Prozent) und auch Österreich (14,9 Prozent) kommen alle auf eine teils deutlich niedrigere Rotationsziffer. In Italien und Griechenland liegt die Rotation mit 10,0 bzw. 10,1 Prozent deutlich am tiefsten.

Tabelle 1

Durchschnittlich sind 2015 jeden Tag 88 Stellen mehr geschaffen als abgebaut worden.

Kontinuierlicher Prozess der schöpferischen Zerstörung

Die grosse Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ist das Ergebnis einer laufenden Neuverteilung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Denn beide Produktionsfaktoren werden durch die Unternehmen in einer optimalen Kombination eingesetzt. Kleine und grössere technologische und methodische Fortschritte führen dazu, dass die optimale Zusammensetzung von Arbeit und Kapital sich fortlaufend verändert. Dadurch müssen bestehende Strukturen aufgelöst werden, wobei die Produktionsfaktoren neu zusammengesetzt werden. Dieser Prozess wird als schöpferische Zerstörung bezeichnet, denn er geht mit einer Erhöhung der Produktivität einher und er lässt sich gut veranschaulichen, indem man die Neuverteilungen von Arbeit über die einzelnen Branchen betrachtet.

Interessant ist die Einsicht, dass auch jene Branchen, die traditionell immer mehr an Bedeutung verlieren, eine grosse Anzahl Stellen schaffen. Dies widerspricht der weitverbreiteten Auffassung, dass in schrumpfenden Branchen Arbeitsplätze vernichtet werden, während in aufsteigenden Branchen neue entstehen. So wurden 2015 beispielsweise im Detailhandel 31’570 Stellen geschaffen. Bei den schrumpfenden Branchen, die entsprechend ein negatives Beschäftigungssaldo aufweisen, liegt das Verhältnis von abgebauten und neuen Stellen insgesamt bei 78,6 Prozent. Mit anderen Worten werden in diesen Wirtschaftszweigen trotz der insgesamt negativen Beschäftigungsentwicklung vier von fünf abgebauten Stellen wieder in derselben Branche aufgebaut. Die Verschiebung der Beschäftigung zwischen den Branchen und der damit einhergehende Wandel auf dem Arbeitsmarkt schreiten viel langsamer voran, als man vielleicht meinen könnte. 

Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis ist die Tatsache, dass in Branchen mit positivem Beschäftigungssaldo der Anteil abgebauter Stellen durch Firmenschliessungen höher liegt als in Branchen mit negativem Beschäftigungssaldo. Die Dynamik der Markteintritte und -austritte und somit auch die Neuverteilung von Arbeit wirken sich also positiv auf die Beschäftigung innerhalb einer Branche aus.

Auch die Betrachtung der Arbeitsmarktgesamtrechnung verdeutlicht, wie dynamisch dieser Markt ist. So sind zwischen 2005 und 2015 rund 3,4 Millionen Personen neu in den Arbeitsmarkt eingetreten, während etwas mehr als drei Millionen Personen ausgetreten sind. In derselben Periode sind rund 1,7 Millionen Menschen in unseren Arbeitsmarkt eingewandert und rund 1,1 Millionen ausgewandert.

Beeindruckend ist auch die Dynamik der Übergänge zwischen Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit. So zeigen Erhebungen des Seco, dass sich zwischen Beginn und Ende des Jahres 2016 die Zahl der Stellensuchenden von 220’000 auf 223’000 Personen erhöht hat. Aber lediglich 60’000 der 220’000 Personen waren sowohl am Anfang wie auch am Ende des Jahres im Bestand der Stellensuchenden. In der gleichen Periode meldeten sich neu 323’000 Personen bei den Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV), während sich 320’000 abmeldeten.

Die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ist überwältigend. Tagtäglich gehen also weit mehr als 1000 Stellen verloren und noch mehr werden geschaffen. Wie aber lassen sich derart grosse Bewegungen erklären?

Tabelle 2

Sowohl privatwirtschaftliche wie staatsnahe Branchen haben 2015 über 10 Prozent neue Stellen aufgebaut.

Tabelle 2 zeigt auf, wie stark die exportierenden Unternehmen vom «Frankenschock» in Mitleidenschaft gezogen wurden. So zeigt sich, dass im Maschinenbau 3,2 Prozent aller Stellen netto abgebaut werden mussten.

Wie sich ebenfalls zeigt, schuf 2015 der Staat viele neue Stellen. Leider lässt sich zwar nicht trennscharf über alle Branchen zwischen Staat und Privatwirtschaft unterscheiden, aber diese lassen sich immerhin grob zuordnen. Die Auswertung zeigt dann, dass 2015 nicht nur der Staat Arbeitsplätze aufbaute, sondern auch die Privatwirtschaft. Dies ist vor dem Hintergrund des Frankenschocks überraschend. Während der vorwiegend staatliche Bereich 2015 32’418 Stellen geschaffen hat (wobei fast 40 Prozent auf das Gesundheitswesen entfallen), schufen die Privaten trotz Frankenkrise insgesamt 1525 Stellen. Die Beschäftigungsbilanz der Branchen, die nicht eindeutig dem Staat oder der Privatwirtschaft zugeordnet werden können, betrug rund minus 1000 Stellen.

Welche Branchen sind privat, welche vorwiegend staatlich?

Zu den staatlich organisierten Branchen zählen:

Öffentliche Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherungen; Erziehung und Unterricht; Gesundheitswesen; Heime (ohne Erholungs- und Ferienheime) und das Sozialwesen (ohne Heime)

Zu den privatwirtschaftlich organisierten Branchen zählen:

Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden; Herstellung von Nahrungs- und Genussmitteln, Getränken und Tabakerzeugnissen; Herstellung von Textilien, Bekleidung, Leder, Lederwaren und Schuhen; Herstellung von Holzwaren, Papier, Pappe und Waren daraus; Herstellung von Druckerzeugnissen; Kokerei, Mineralölverarbeitung und Herstellung von chemischen Erzeugnissen; Herstellung von pharmazeutischen Erzeugnissen; Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren sowie von Glas und Glaswaren, Keramik, Verarbeitung von Steinen und Erden; Metallerzeugung und -bearbeitung, Herstellung von Metallerzeugnissen; Herstellung von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen, optischen Erzeugnissen und Uhren; Herstellung von elektrischen Ausrüstungen; Maschinenbau; Fahrzeugbau; sonstige Herstellung von Waren, Reparatur und Installation von Maschinen und Ausrüstungen; Energieversorgung; Hoch- und Tiefbau; vorbereitende Baustellenarbeiten, Bauinstallation und sonstiges Ausbaugewerbe; Handel mit Motorfahrzeugen; Instandhaltung und Reparatur von Motorfahrzeugen; Grosshandel (ohne Handel mit Motorfahrzeugen); Detailhandel (ohne Handel mit Motorfahrzeugen); Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen; Schifffahrt und Luftfahrt; Lagerei sowie Erbringung von sonstigen Dienstleistungen für den Verkehr; Beherbergung; Gastronomie; Verlagswesen, audiovisuelle Medien und Rundfunk; Telekommunikation; Informationstechnologische und Informationsdienstleistungen; Erbringung von Finanzdienstleistungen; Versicherungen, Rückversicherungen und Pensionskassen (ohne Sozialversicherung); mit Finanz- und Versicherungsdienstleistungen verbundene Tätigkeiten; Grundstücks- und Wohnungswesen; Rechts- und Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung; Verwaltung und Führung von Unternehmen und Betrieben; Unternehmensberatung; Architektur- und Ingenieurbüros; technische, physikalische und chemische Untersuchung; sonstige freiberufliche, wissenschaftliche und technische Tätigkeiten; Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen; Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften

Zu den nicht zuordnungsbaren Branchen zählen:


Land- und Forstwirtschaft und Fischerei; Post-, Kurier- und Expressdienste; Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen; Forschung und Entwicklung