# 1 / 2022
25.01.2022

Die Schweiz und das Vereinigte Königreich: gemeinsam fit für die Zukunft

Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen Schweiz-UK – Bestandesaufnahme

Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und dem Abschluss des HKA EU-UK kam auch die Schweiz in zweierlei Hinsicht unter Handlungsdruck: Zum einen mussten die bilateralen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich im Rahmen der «mind the gap»-Strategie innert kürzester Frist auf eine komplett neue vertragliche Basis gestellt werden. Dies, da die bilateralen Verträge mit der EU zum Zeitpunkt des Brexits für die bilateralen Beziehungen CH-UK nicht mehr anwendbar waren. Zum anderen gilt es mit Blick auf das HKA EU-UK, mögliche Diskriminierungspotenziale der Schweiz gegenüber der EU im Verhältnis mit dem Vereinigten Königreich zu adressieren.

CH-UK: rückläufiger Güterhandel, Anstieg bei Dienstleistungen und Investitionen

Das Vereinigte Königreich ist nach den EU-27-Staaten als Handelsblock und den USA der drittwichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz. Umgekehrt ist auch die Schweiz für das Vereinigte Königreich ein äusserst wichtiger Handelspartner. An der relativen Bedeutung für die Schweiz haben weder der Brexit noch die Corona-Pandemie etwas geändert. Dies manifestiert sich in einem bilateralen Handelsvolumen von über 35 Milliarden Franken (Güter und Dienstleistungen, ohne Gold, 2020).

Gleichwohl ist mit Blick auf andere wichtige Partner festzustellen, dass sich der Güterhandel im Vergleich zu 2015 tendenziell negativ entwickelt hat: In den ersten drei Quartalen 2021 lag der Güterhandel mit den EU-27-Staaten 24.6 Prozent über dem Niveau von 2015, jener mit den USA und China gar 52.9 Prozent respektive 57.3 Prozent. Das Güterhandelsvolumen der Schweiz mit dem Vereinigten Königreich ist hingegen im selben Zeitraum um 31.8 Prozent gesunken. Sämtliche wichtigen Schweizer Exportsektoren waren betroffen. Auffällig ist auch hier der starke Anstieg im letzten Quartal 2020 und der heftige Einbruch im 1. Quartal 2021. Dies bestätigt, dass der Einbruch nicht nur durch die Corona-Pandemie, sondern insbesondere auch massgeblich durch die Unsicherheiten des Brexits verursacht wurde.

Für die folgenden Quartale 2021 zeigte die Pharma-, Chemie- und Uhrenbranche eine leichte Erholung, während die MEM- und Textilindustrie ihre Abwärtstendenz nach kurzem Anstieg im 2. Quartal erneut fortsetzten. Da das Grenzkontrollregime des Vereinigten Königreichs noch nicht vollständig hochgefahren ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass 2022 weitere negative Auswirkungen auf die bilaterale Güterhandelsdynamik sichtbar werden könnten.

Der bilaterale Güterhandel CH-UK verzeichnete 2021 einen massiven Einbruch und erholt sich nur langsam. Das Kontrollregime an der britischen Grenze für Güterimporte wird zudem erst 2022 voll ausgebaut sein.

Auch im Dienstleistungshandel bleibt das Vereinigte Königreich der drittwichtigste Partner der Schweiz, hinter den EU-27-Staaten, den USA und vor China. Anders als bei den Gütern präsentiert sich die Entwicklung hier aber positiv: Vergleicht man die ersten zwei Quartale 2015 und 2021, zeigt sich eine deutliche Zunahme des Dienstleistungshandels der Schweiz mit dem Vereinigten Königreich (+21.1%), wohingegen der Handel mit den EU-27-Staaten deutlich geringer anstieg (+2.2%). Die USA und China verzeichneten im selben Zeitraum einen Anstieg um 7.3 Prozent respektive 16.7 Prozent.

Für die Jahre 2020 und 2021 dürfte der Einfluss der Pandemie, verbunden mit drastischen Einschränkungen im grenzüberschreitenden Personenverkehr, wohl einen deutlich stärkeren Einfluss gehabt haben als der Brexit: Die Pandemie hat – ob mit oder ohne Personenfreizügigkeit – zu einer drastischen Abnahme der grenzüberschreitenden Mobilität geführt. Erst eine Normalisierung der epidemiologischen Situation wird eine stabilere Aussage zu den Auswirkungen des Verlusts der Personenfreizügigkeit im Verhältnis mit den Briten erlauben.

Anders als im Güterhandel CH-UK ist bei den Dienstleistungen eine positive Entwicklung seit 2015 festzustellen. Einschränkende Corona-Massnahmen machen eine Einschätzung zum Verlust der Personenfreizügigkeit im Kontext des Brexit schwierig.

Die wirtschaftliche Bedeutung des Vereinigten Königreichs für die Schweiz zeigt sich auch in den Direktinvestitionen: Mit einem Kapitalbestand von 89.4 Milliarden Franken war das Vereinigte Königreich 2020 hinter den EU-27-Staaten und den USA der drittwichtigste Zielmarkt für Schweizer Auslandinvestitionen. Britische Direktinvestitionen in der Schweiz beliefen sich im selben Jahr auf 62 Milliarden Franken.

Die bilaterale Investitionsdynamik (Kapitalbestände) von 2015 bis 2020 mit dem Vereinigten Königreich hat jene mit den EU-27-Staaten deutlich übertroffen: Investitionen aus der Schweiz ins Vereinigte Königreich (+93.2%) sind fast dreimal stärker gestiegen als jene in die EU-27-Staaten (+32.6%) und auch stärker als in Richtung USA (+42.5%). Britische Investitionsbestände in der Schweiz haben sich im selben Zeitraum um 49.7 Prozent erhöht. Im Vergleich: Investitionen aus den EU-27-Staaten sind im selben Zeitraum um 23.6 Prozent gewachsen, jene aus den USA um 64.2 Prozent. Allerdings: Seit 2018 sind britische Investitionen in die Schweiz wieder rückläufig.

Mitgliederumfrage: Schweizer Wirtschaft erwartet Beruhigung nach anfänglichen Turbulenzen

Eine Vielzahl von Schweizer Exportunternehmen wurde mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU kurzfristig vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Dies bestätigt eine Mitgliederumfrage von economiesuisse (November 2021). Zu den meistgenannten Problemen im bilateralen Handel CH-UK gehörten finanzielle und administrative Mehrbelastungen (z.B. Zölle), Unsicherheiten über anzuwendende Regeln beim Export und Lieferverzögerungen infolge langwieriger Grenzkontrollen. Aber auch im Mobilitätsbereich und im Zugang zu Fachkräften meldeten Firmen Schwierigkeiten.

Der Brexit stellte Schweizer Exporteure vor grosse Herausforderungen. Mittel- und langfristig überwiegen jedoch zuversichtliche Prognosen für die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen.

Trotz dieser Probleme erwarten die Wirtschaftsbeteiligten eine baldige Beruhigung in den bilateralen Handels- und Investitionsbeziehungen. Dieses hoffnungsvolle Bild stützt sich darauf, dass die anfänglichen Turbulenzen auch durch die noch fehlende «Routine» von Unternehmen und Behörden in Europa im Umgang mit den neuen rechtlichen Rahmenbedingungen post-Brexit mitverursacht wurden. Firmenseitig beinhaltete dieser Anpassungsprozess etwa Umstellungen bei internen Prozessen, Lieferfristen, Produktions- und Logistiknetzwerken, aber auch Sondereinsätze des Personals und den regelmässigen Kontakt mit den Behörden. Zudem konnten die Schweiz und das Vereinigte Königreich auch auf politischer Ebene Probleme adressieren. Schliesslich wird auch das Vereinigte Königreich selbst mit Blick auf die Gestaltung künftiger Rahmenbedingungen diverse Unsicherheiten aus dem Weg schaffen können.

Allerdings: Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU geht für Schweizer Unternehmen unweigerlich mit neuen Handelshürden und Mehraufwand für grenzüberschreitende Waren- und Dienstleistungsflüsse in Europa einher (siehe Kapitel «Ein Freihandelsabkommen ist keine Binnenmarktteilnahme»). Zu ähnlichen Ergebnissen kam jüngst auch eine Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer bei ihren Mitgliedunternehmen in Sachen Brexit.

Vertraglicher Status quo der bilateralen Beziehungen CH-UK weitestgehend gesichert

Die Auffanglösung «mind the gap» zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich umfasst neun Abkommen, die seit dem 1. Januar 2021 (teils vorläufig oder befristet) in Kraft sind. Sie betreffen die Bereiche Handel, Mobilität von Dienstleistungserbringern, Versicherungen, Luftfahrt, Strassenverkehr, erworbene Rechte der Bürgerinnen und Bürger, Koordination der Sozialversicherungen, Polizeikooperation sowie Zollverfahren. Darüber hinaus sichert das Vereinigte Königreich der Schweiz zu, sämtliche bestehenden Äquivalenzanerkennungen der EU im Finanzdienstleistungsbereich gegenüber der Schweiz auch nach dem Brexit unilateral zu garantieren. Auch die Schweizer Börsenregulierung fällt darunter, welche die EU seit 2019 nicht mehr als gleichwertig anerkennt.

Die Schweizer Wirtschaft wurde bei der Umsetzung der «mind the gap»-Strategie durch die Bundesverwaltung eng einbezogen. Im Kern sichern diese Abkommen und unilateralen Massnahmen den Status quo der Beziehungen CH-UK weitestgehend. Die vorhandenen Lücken sind auch darin begründet, dass das Vereinigte Königreich mit dem Brexit eine stärkere regulatorische Autonomie gegenüber der EU anstrebt.

Im Vergleich zur Situation vor dem Brexit konnte die Schweiz mit dem Vereinigten Königreich insbesondere in folgenden vier Bereichen den Status quo nicht sichern:

  • Zwar Erleichterungen bei Einreise und Aufenthalt, aber keine Fortführung der Personenfreizügigkeit.
  • Gegenseitige Anerkennung bei Konformitätsbewertungen von Industrieprodukten (MRA) nur für drei statt bisher 20 Kategorien: Fahrzeuge, gute Laborpraxis (GLP) und gute Herstellungspraxis (GMP).
  • Eingeschränkte Kumulierungsmöglichkeiten im Handel CH-UK mit Vormaterialien bestimmter Länder infolge Austritt des Vereinigten Königreichs aus der PEM-Konvention.
  • Zusätzliche Grenzkontrollen im Warenhandel infolge Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus dem gemeinsamen Veterinärraum CH-EU und dem europäischen Abkommen über Zollerleichterung und Zollsicherheit (ZESA).

Präferenzielle Ursprungsregeln im bilateralen Handel CH-UK

Aufgrund inhaltlicher Differenzen der Ursprungsregeln CH-UK im Vergleich zum HKA EU-UK war Anfang 2021 die Kumulation1 mit Vormaterialien mit Ursprung aus der EU im Handel CH-UK nicht möglich. Als Folge davon mussten britische und Schweizer Exporteure neu Zölle zahlen. Um die Kumulation mit Vormaterialien mit Ursprung aus der EU zu ermöglichen, einigten sich die Schweiz und das Vereinigte Königreich am 8. Juni 2021 auf eine Anpassung der bilateralen Ursprungsregeln. Konkret wurden per 1. September 2021 die revidierten Ursprungsregeln der PEM-Konvention ins Handelsabkommen CH-UK inkorporiert. Damit konnte ein grosses Handelshemmnis behoben werden. Der Lösung ging ein intensiver, aber konstruktiver Austausch zwischen den Behörden und Wirtschaftsvertretern beider Länder voraus.

Trotz der neuen Regelung zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich bleiben andere Kumulationsprobleme im neuen Verhältnis zwischen der EU, UK und der Schweiz sowie mit anderen Handelspartnern bestehen. Diese Probleme können nicht im Rahmen der bilateralen Beziehungen CH-UK gelöst werden, sondern nur unter Einbeziehung aller betroffenen Parteien.


Bei der Kumulation wird die Wertschöpfung, die in verschiedenen Freihandelspartnerländern stattfindet, addiert, um die Kriterien für Zollpräferenzen zu erfüllen.

Diskriminierungspotenziale gegenüber der EU adressieren

Die Verhandlungen des Vereinigten Königreichs mit der EU und der Schweiz führten aufgrund verschiedener Interessenslagen teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen. Hierbei spielten auch die zeitliche Parallelität der Verhandlungen CH-UK und EU-UK sowie inhaltliche Interdependenzen eine Rolle. Für die Schweiz sind im HKA EU-UK insbesondere jene Bereiche relevant, in denen das Vereinigte Königreich und die EU weitreichendere Zugeständnisse aushandelten.

Ein Vergleich der vertraglichen Beziehungen des Vereinigten Königreichs mit der Schweiz und der EU offenbart Vorteile für hiesige Firmen, aber auch Diskriminierungspotenziale gegenüber EU-Wettbewerbern. Diese gilt es zu adressieren.

Im Gesamtvergleich zeigt sich, dass die bilaterale Vertragslösung der Schweiz mit dem Vereinigten Königreich trotz hoher Substanz mittelfristig in einigen Punkten verbessert werden sollte. Dies einerseits, um Diskriminierungen gegenüber der EU zu vermeiden (z.B. öffentliches Beschaffungswesen, Dienstleistungserbringung oder digitaler Handel). Andererseits bestehen aber auch Chancen, im bilateralen Verhältnis über die bisherigen vertraglichen Vereinbarungen hinauszugehen und damit bisher ungenutzte Potenziale zu erschliessen. Diese Handlungsfelder sollen im Rahmen der geplanten Vertiefung des Handelsabkommens CH-UK angegangen werden (siehe Kapitel «Bilaterales Handelsabkommen ins 21. Jahrhundert hieven»).