OECD/BEPS: Entfesselte Steuerbürokraten

Die OECD plant eine fundamentale Umgestaltung des internationalen Steuersystems. Der Schaden aus dem radikalen Projekt gegen «Base Erosion und Profit Shifting» (BEPS) droht beträchtlich zu sein. Auch die Schweiz ist betroffen.
In Paris ist wieder Revolution. Diesmal findet sie nicht auf der Strasse, sondern in den Büros und Plenarsälen der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) statt. Köpfe rollen dort keine. Und doch ist klar, dass es ums Ganze geht: um die fundamentale Änderung der über Jahrzehnte gewachsenen internationalen Steuerordnung.

BEPS, Base Erosion und Profit Shifting, wie das Projekt heisst, steht für alles, was mit internationaler Steuerausweichung und -vermeidung in Verbindung gebracht werden kann. Die OECD hat sich seit 2011 dem Kampf gegen diese verschrieben, das Mandat hat sie von der G-20. Die treibenden Kräfte sind hier wie dort dieselben: grosse Industriestaaten mit grossen, aber leeren Staatskassen, die sich zwecks breiter Abstützung des Projekts von den führenden Schwellenländern sekundieren lassen.

Für eine neue, bessere Steuerwelt – umfassend und radikal
BEPS will vordergründig nichts Unrechtes: Unternehmensgewinne sollen nicht künstlich verkürzt oder mit unlauteren Mitteln von einem (Hochsteuer-)Standort an einen (Tiefsteuer-)Standort verschoben werden können. Starbucks, Amazon und andere Firmen haben für solche Praxen jüngst Anschauung gegeben und dem Projekt dadurch Vorschub geleistet. War die internationale Zusammenarbeit im Steuerbereich traditionell auf die Vermeidung von Doppelbesteuerungen gerichtet mit deren Ziel, den wirtschaftlichen Austausch zu fördern, stehen nun Nichtbesteuerungen und tiefe Steuerbelastungen im Fokus. Die OECD beruft sich dabei auf die Vernunft und etwas auch aufs Sentiment: staatliche Selbsthilfemassnahmen, so das Argument, seien schädlicher als BEPS, weil das globale Steuersystem dadurch (ganz) chaotisch und unberechenbar würde, was von niemandem und zuletzt von den auf Rechts- und Planungssicherheit bedachten Unternehmen gewünscht werden kann. Daneben geht es um die Gerechtigkeit, um die Wiederherstellung der «tax fairness», wie es das Manifest, der «Aktionsplan», einleitend klar macht.

Für eine neue, bessere Steuerwelt, wie sie das Ziel ist, muss BEPS umfassend und radikal sein – und hier setzen die Bedenken in weiten Kreisen der Wirtschaft und darüber hinaus ein. Ob es um die Gültigkeit internationaler Steuerabkommen (Aktion 6), Betriebsstättenregeln (Aktion 7), Verrechnungspreisbestimmungen (Aktionen 8–10) oder Dokumentationspflichten (Aktionen 12 und 13) geht, um spezifische Themen wie hybriden Gestaltungen (Aktion 2) und Schuldzinsabzüge (Aktion 4) oder grosse Würfe wie die steuerliche Zähmung der «digitalen Wirtschaft» (Aktion 1) und eine neue umfassende multilaterale Steuerkonvention (Aktion 15): Der Aktionsplan lässt kaum einen Bereich aus und stellt alles infrage, zu kurz kommt aber die Verhältnismässigkeit und der Sinn für den Schaden, den man mit einem solchen auf seine Wirkung kaum geprüften Ansatz anrichtet.

Fünffacher Schaden: Bürokratisierung und Eingriffe in die Wirtschaft
Was ist der Schaden? Er ist mindestens fünffach. Erstens drohen eine starke Bürokratisierung und strukturelle Eingriffe in die internationale Wirtschaft. Wo jedes möglicherweise schädliche Verhalten bereits im Ansatz verhindert werden soll, müssen Bestimmungen breit und minutiös sein. Umso mehr, als sich die Wirtschaft laufend wandelt und die Branchen unterschiedlich sind. Weil die Steuerwelt genau wie die Wirtschaft zudem nicht schwarz und weiss ist und es für verpönte Strukturen auch legitime Gründe gibt – hybride Finanzierungsinstrumente werden auch von staatlichen Regulatoren verlangt –, muss weiter differenziert werden. Das Ergebnis ist ein Berg neuer Regulierungen, der nicht nur die Unternehmen überfordert, sondern auch die Verwaltungen. Firmen, die vor lauter Reporting, Compliance und Risikomanagement keine Zeit mehr zum Geld verdienen haben, und Behörden, denen vor Überwachung und Umsetzung der komplizierten Regeln keine Zeit mehr zum Steuereintreiben bleibt – diese Perspektive ist überspitzt, ganz von der Hand zu weisen ist sie nicht. Weil BEPS zudem dem Transfer von Kapital und anderen Wirtschaftsgütern misstraut, drohen Eingriffe in die unternehmerische Freiheit mit dem Ziel der Renationalisierung, was mit Kosten für die Unternehmen und die Volkswirtschaft(en) verbunden sein wird.

Formelle und teilweise materielle Harmonisierung
Zweitens besteht die Gefahr einer (zu) weitgehenden Harmonisierung. Koordinierte, teilweise einheitliche Steuerregeln haben für Staaten wie Unternehmen Vorteile. Ein Erfolg der OECD besteht gerade darin, dass in den vergangenen Jahrzehnten ein verbindliches Regelwerk geschaffen wurde, das Sicherheit gibt, Doppelbesteuerungen vermeidet und Transaktionskosten senkt. Ein Rückschritt in dieser Hinsicht ist nicht wünschbar. BEPS geht jedoch viel weiter. Darunter leiden werden zum einen nationale Ordnungen, die nicht mehr auf der Linie der OECD liegen, unter Umständen aber zweckmässiger sind. Den Schaden haben wird auch das internationale Steuerrecht, das noch schwerfälliger als heute wird und nurmehr mit Mühe der sich rasch wandelnden Praxis wird folgen können, weshalb sich Probleme der Relevanz ergeben. Dass die angestrebte Gleichschaltung auch die materielle Ebene zum Ziel hat, das heisst die Steuersätze, bestreitet die OECD. Wenn jedoch formelle Korsette so eng geschnürt werden, dass für die freie Wahl der Steuersätze kaum mehr Raum bleibt, und Missbrauchsregeln, die auf Mindeststeuersätze hinauslaufen, vorangetrieben und verschärft werden (Aktion 3), ist es wahrscheinlich, dass die materielle Steuerharmonisierung zumindest partiell in Kauf genommen wird.

Neue Doppel- und Überbesteuerungen
Ein dritter Schaden ist die Folge des zweiten: eine Entharmonisierung. Gemäss dem bisherigen Ansatz ist BEPS so ausgreifend, dass viele Fragen trotz genauer Regelung offen bleiben werden. Jeder Staat wird die Auslegung für sich und zu seinem Vorteil machen. Weil BEPS bewusst mit bestehenden Ordnungen bricht, werden Unsicherheiten auch dort entstehen, wo heute vielleicht nicht perfekte, aber immerhin bekannte Praxen spielen; im Bereich der Verrechnungspreise könnte dies der Fall sein. Entharmonisierung wird zu neuen Doppel- und Überbesteuerungen führen und damit dem grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austausch schaden. BEPS droht damit, die erste und vornehmste Aufgabe der OECD überhaupt zu unterlaufen: die Förderung von Handel und Investitionen.

Hohes Konfliktpotenzial
Viertens läuft BEPS auch Gefahr, der internationalen Zusammenarbeit, einem weiteren OECD-Hauptziel, einen Bärendienst zu erweisen. Stark erhöhte Dokumentationspflichten der Unternehmen und der geplante Behördenaustausch von Steuerdaten einschliesslich von Steuerrulings werden zwar zu grösserer Transparenz führen (sofern die Datenmasse überhaupt verarbeitet werden kann). Staaten werden absehbar aber auch vermehrt über die Aufteilung von Unternehmensgewinnen und damit über die alles entscheidende Frage, wo am Ende die Steuern zu bezahlen sind, streiten. Zudem wird BEPS nicht alle Erwartungen erfüllen können und dadurch Frustrationen erzeugen. Die Wirtschaft sieht entsprechend viel Konfliktpotenzial und verlangt den Ausbau von Streitbeilegungsmechanismen, was zwar vorgesehen (Aktion 14), bis jetzt aber nicht vorangetrieben wurde.

Macht und Interessen statt sachlicher Problemlösung
Der fünfte Schaden betrifft die OECD selbst. BEPS hat die Glaubwürdigkeit dieser internationalen Organisation angekratzt. Einige Gründe dafür wurden genannt, es gibt noch weitere. Wie die G-20 verlangt auch die OECD beim Steuerwettbewerb ein «level playing field», das heisst gleich lange Spiesse für alle. Das ist gut so, solange alle gleiche Rechte haben und «gleich» für alle dasselbe bedeutet. So wie der BEPS-Prozess geführt wird, bestehen daran aber Zweifel. Der Prozess wird scheinbar von grossen Staaten dominiert, die Verfahren sind hektisch und laufen unter einem Zeitdruck ab, der in der Sache keinen Grund hat und die genaue Prüfung der allesamt anspruchsvollen Themen kaum erlaubt. Der Eindruck, dass Diskussionen vermieden werden sollen und der Widerspruch unerwünscht ist, besteht weitum. Die OECD ist noch immer die führende internationale Wirtschaftsorganisation, und sie sollte diese Rolle nicht an weniger legitimierte Organisationen wie die G-20 abgeben. Auch ist am Vorhaben, die internationale Steuerordnung weiterzuentwickeln und Missstände zu beheben, nichts auszusetzen. Es sollte aber so geschehen, dass Probleme und ihre Lösungen im Vordergrund stehen und nicht das Interesse von Hochsteuerstaaten, steuerlich wettbewerbsfähigeren Staaten durch ein Steuerkartell unter dem geblähten Segel der Gerechtigkeit den Lebensnerv durchzuschneiden.

Boxen-Diskussion relevant für die Schweiz
Für die Schweiz schliesslich besonders relevant ist der Kampf gegen den schädlichen Steuerwettbewerb (Aktion 5). Die OECD ist auf diesem Gebiet seit Jahren tätig, im Zuge von BEPS aber noch verstärkt. Bis im September soll aufgezeigt werden, welche steuerlichen Lösungen künftig als schädlich erachtet werden und damit verboten werden sollen. Die Schweiz wird wahrscheinlich in fünf Fällen betroffen sein (kantonale Steuerregimes und zwei Bundeslösungen). In der Prüfung stehen daneben auch Sonderlösungen für Lizenzerträge (Boxen), wie sie in verschiedenen europäischen Ländern angewendet werden und auch für die Schweiz in der Diskussion stehen (Unternehmenssteuerreform III). Nachdem mit Grossbritannien ein führender BEPS-Staat über eine Patentbox verfügt, ist nicht anzunehmen, dass sich die OECD gänzlich gegen diese Besteuerungsform aussprechen wird. Die diesbezüglichen Diskussionen sind jedoch genau zu verfolgen.

Fazit: Kein Grund für revolutionäre Umgestaltung
BEPS läuft nach Zeitplan bis Ende 2015. Korrekturen und Richtungsänderungen sind also noch möglich. Das internationale Steuersystem ist nicht perfekt und wird es niemals sein. Zur präzedenzlosen Ausbreitung von Handel und Investitionen, von Entwicklung und Wohlstand in den letzten Jahrzehnten hat es aber massgeblich beigetragen. Für eine revolutionäre Umgestaltung gibt es keinen Grund. Nicht nur in der Wirtschaft besteht die Hoffnung, dass sich diese Sicht durchsetzt.

Eine kürzere Version dieses Beitrags ist in der NZZ vom 11. Juli erschienen.