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Sieben Mythen der Selbstbestimmungsinitiative

Mit Mythen ist das so eine Sache. Sie tönen auf den ersten Blick meist stimmig und inspirieren unsere Fantasie. Ein zweiter Blick lohnt sich jedoch oft und holt einen wieder auf den Boden der Realität zurück. Denn der Wahrheitsgehalt von Mythen steigt nicht automatisch, je häufiger sie erzählt und wiederholt werden. Das gilt auch bei der Selbstbestimmungsinitiative (SBI). Die Initianten verwechseln in ihrer Argumentation regelmässig Mythos und Realität.

Mythos 1 – Die SBI rettet die Schweizer Demokratie 

Um es klar auszudrücken: Die Schweizer Demokratie muss nicht gerettet werden. Sie funktioniert. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die direkte Demokratie sind und bleiben auch ohne SBI zentrale Grundsätze. Kaum ein anderes Land kennt ähnlich weitgehende Mitbestimmungsrechte der Stimmbevölkerung in der Innen- und Aussenpolitik wie das unsere. Unliebsame Gesetzesänderungen oder internationale Verträge können schon heute per Referendum und Volksinitiative verhindert respektive gekündigt werden. Die SBI stärkt die Volksrechte nicht. Im Gegenteil: Staatsverträge müssten bei einem Widerspruch zur Bundesverfassung zwingend neu verhandelt oder gekündigt werden. Selbst wenn ein entsprechender Vertrag von der Stimmbevölkerung an der Urne klar angenommen wurde, hätte das Volk zu seiner Kündigung gemäss SBI nichts mehr zu sagen. 

Mythos 2 – Die SBI schafft klare Verhältnisse und Rechtssicherheit 

Ebenso könnte man behaupten, ein Sieb sei das richtige Instrument zum Wasserschöpfen. Ein in sich widersprüchlicher, schwammiger Initiativtext schafft nicht Klarheit, sondern Rechtsunsicherheit für Bürger, Unternehmen und Vertragspartner der Schweiz. Pikanterweise liefern die Initianten auch auf die eigentliche Kernfrage keine klare Antwort. Nämlich: Wann führt ein Widerspruch zwischen Völkerrecht und der Bundesverfassung zu einer Neuverhandlung oder Kündigung des Staatsvertrags? Die Stärke des Rechts war für die Schweiz seit jeher das wirksamere Instrument, um sich im internationalen Kontext zu behaupten. Es ist deshalb unsinnig, gerade dieses Instrument grundlos zu schwächen. 

Mythos 3 – Die Wirtschaft ist von der Initiative nicht betroffen 

Das sehen die 100'000 Schweizer Exportunternehmen anders. Wie sollen Wirtschaftsverträge von der SBI NICHT betroffen sein, wenn der Initiativtext eine pragmatische Interessensabwägung verunmöglicht und auf sämtliche bestehenden und künftigen Verträge anzuwenden ist? Die Schweiz verdient fast jeden zweiten Franken im Ausland. Grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen sind ohne Rechtssicherheit und verlässliche völkerrechtliche Beziehungen undenkbar. Zwar besteht nicht für alle der 600 wirtschaftsrelevanten Abkommen eine unmittelbare Kündigungsgefahr. Mindestens aber das Landverkehrsabkommen und das Freizügigkeitsabkommen mit der EU müssten bei Annahme der Initiative neu verhandelt oder gekündigt werden. Damit wird der gesamte bilaterale Weg infrage gestellt. Mit ihrem Dauervorbehalt und der Forderung, ungekündigte Abkommen in manchen Fällen einfach zu missachten, untergräbt die SBI aber noch ein weiteres, viel grundlegenderes Wirtschaftsprinzip: Partner halten ihr Wort und Verträge sind einzuhalten. 

Mythos 4 – Deutschland stellt die Verfassung über das Völkerrecht 

Wie war das mit dem Vergleichen von Äpfeln und Birnen? Erstens geniesst EU-Recht in Deutschland grundsätzlich Vorrang vor dem deutschen Recht – auch die Personenfreizügigkeit. Dazu zählt auch, dass Entscheide des Europäischen Gerichtshofs (EUGH) vom deutschen Bundesverfassungsgericht berücksichtigt werden. Zweitens geniesst die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Deutschland de facto Verfassungsrang. Drittens verfügt Deutschland – anders als die Schweiz – über ein Verfassungsgericht, welches gesetzgeberische Eingriffe in die Grundrechte stark einschränkt. Und viertens praktiziert Deutschland – wie die Schweiz – eine pragmatische Interessensabwägung bei Konflikten zwischen Völker- und Landesrecht (übrigens ohne SBI-Kündigungsklausel). Fazit zum Vergleich mit Deutschland: Prädikat «untauglich». 

Mythos 5 – Mit der SBI hat die Schweiz auf dem internationalen Parkett eine bessere Verhandlungsposition 

Ein sehr abenteuerliches Argument, wenn man bedenkt, dass die Schweiz mit Annahme der SBI in der Verfassung festhalten würde, dass sie sich künftig vorbehält, eingegangene Verpflichtungen fallweise nicht mehr einzuhalten. Das Gegenteil wäre der Fall: Unsere Vertragspartner könnten ihrerseits neue Vorbehalte einbringen – gegen die Interessen der Schweiz – und es mit der Vertragstreue nicht mehr so genau nehmen. Sinn und Zweck von internationalen Vereinbarungen ist es aber gerade, Rechtssicherheit für die Schweiz zu gewährleisten und verbindliche Regeln festzulegen. Wie soll das geschehen, wenn wir alles nur unter Vorbehalt zusichern können? Die SBI stärkt die Verhandlungsposition der Schweiz also keineswegs, sie schwächt sie vielmehr. Ein ziemliches Eigentor. 

Mythos 6 – Die EMRK hat für die Schweizer Wirtschaft keine Bedeutung 

Einspruch! Solange die Schweiz politisch und wirtschaftlich keine Insel ist – und darauf deutet trotz Klimaerwärmung nichts hin –, hört die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes nicht an der Landesgrenze auf. Die EMRK gewährt Schweizer Unternehmen und ihren Angestellten im Ausland Schutz vor willkürlichen Entscheiden. Ein faires Gerichtsverfahren, das Recht auf Eigentum, die Meinungsäusserungsfreiheit oder der Schutz der Privatsphäre sind Rechte, welche auch für Unternehmen eingefordert werden können. Mit der EMRK zielt die SBI somit auch auf eine Stütze des internationalen Rechtsschutzes für die Schweizer Wirtschaft. 

Mythos 7 – Jeder völkerrechtliche Vertrag beinhaltet die automatische Rechtsübernahme 

Willkommen im Reich der alternativen Fakten. Kein internationaler Staatsvertrag der Schweiz beinhaltet eine automatische Rechtsübernahme – weder das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, unsere Freihandels- und Investitionsabkommen, noch WTO-Verträge. Jede Gesetzesanpassung in der Schweiz erfolgt im Rahmen der ordentlichen demokratischen Verfahren via Verwaltung, Parlament und Stimmbevölkerung – daran ändert die SBI gar nichts. Was stimmt: Die Schweiz gleicht sich in ihren technischen Vorschriften wo sinnvoll ausländischen Standards an oder übernimmt diese. Dabei geht es etwa um Regeln im internationalen Luftverkehr oder um bestimmte internationale Produktvorschriften und Fertigungsstandards in der Industrie. Dies liegt sehr wohl im Interesse einer offenen und vernetzten Schweiz mit ihrem kleinen Heimmarkt. Oder stören sich die Initianten etwa daran, dass unsere hier produzierten Maschinen, Medikamente oder Kleidungsstücke auch den Vorschriften der wichtigsten Absatzmärkte entsprechen und Schweizer Konsumenten von einer breiten Produktauswahl profitieren können?