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Faktencheck Bilaterale III

Mit dem Paket Bilaterale III sollen die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) auf eine sichere und langfristige Grundlage gestellt und neue Abkommen abgeschlossen werden. Aktuell wird das Thema heiss diskutiert. Mit dem «Faktencheck zum Paket Bilaterale III» beleuchten wir die wichtigsten Hintergründe, liefern Fakten und beantworten aktuelle Fragen.

Nachfolgend eine Übersicht, welche Hintergründe und Fakten zu den Bilateralen III aufzeigt und aktuelle Fragen in der Thematik beantwortet. Eine Einordnung von economiesuisse zum Paketansatz und den verschiedenen Elementen der Bilateralen III finden Sie in unserem Dossierpolitik «Bilaterale III: Um was geht es eigentlich?»

 

Paket Bilaterale III: Hintergründe und Fakten

Frage: Wie denkt die Stimmbevölkerung über die Bilateralen III?

Antwort: Gemäss einer aktuellen repräsentativen Umfrage befürworten über zwei Drittel der befragten Stimmberechtigten ein Verhandlungsmandat zur Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der EU. Und über 70 Prozent der Stimmberechtigten sprechen sich für die Inhalte des Vertragspakets der Bilateralen III aus. Dies zeigt die repräsentative Umfrage von gfs.bern im Auftrag von economiesuisse, Schweizerischer Arbeitgeberverband (SAV), Interpharma, Schweizerische Bankiervereinigung (SBVg) und Swissmem. Mehr zu den konkreten Umfrageresultaten erfahren Sie in der Medienmitteilung von economiesuisse.

Frage: Sollte sich die Schweiz nicht viel stärker auf die Märkte ausserhalb Europas konzentrieren?

Antwort: Das Kredo lautet: Das eine tun und das andere nicht lassen! Natürlich braucht die Schweiz bestmögliche Beziehungen zu und Freihandelsabkommen mit bspw. Indien, den USA oder den Mercosur-Staaten. Wer aber behauptet, dass die Schweiz mit verbesserten Handelsbeziehungen zu diesen Staaten einen Wegfall der bilateralen Abkommen mit der EU kompensieren könnte, irrt gewaltig. Wir sind nun mal aufgrund unserer geographischen Lage umgeben von EU-Staaten und haben deshalb ein sehr grosses Eigeninteresse, mit der EU in den für uns relevanten Bereichen eng zusammenzuarbeiten. Speziell die Regionen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Schweiz nehmen einen gewichtigen Stellenwert in unserem Aussenhandel ein. Betrachtet man unser Handelsvolumen, dann sind Baden-Württemberg und Bayern etwa so wichtig wie China, unsere französischen Grenzregionen wichtiger als Japan und unsere italienischen Grenzregionen wichtiger als die Vereinigten Arabischen Emirate. Pro Arbeitstag werden Waren im Wert von über 1 Milliarde Schweizer Franken zwischen der Schweiz und der EU ausgetauscht – das ist so viel wie mit Indonesien in einem ganzen Jahr.

Wie schwierig es ist, durch Freihandelsabkommen mit Drittstaaten den Verlust des europäischen Binnenmarktes auszugleichen, beweist gerade Grossbritannien. Bis Mai 2023 hat das Vereinigte Königreich 38 aktive Freihandelsabkommen mit Staaten und Handelsblöcken abgeschlossen, die 99 Länder und Gebiete umfassen. Nur fünf davon sind "neue" Handelsabkommen, z. B. mit Australien und Neuseeland. Bei den übrigen 33 handelt es sich um Abkommen, die mit Ländern abgeschlossen wurden, weil Grossbritannien aus den Freihandelsabkommen der EU fiel. Seit Brexit ist der Anteil der EU am britischen Handel zurückgegangen. Zwischen 1999 und 2007 entfielen 50-55 % der britischen Exporte auf die EU. Bis 2022 war dieser Anteil auf 42 % gesunken. Der Anteil der Einfuhren des Vereinigten Königreichs aus der EU ist seit 1999 ebenfalls zurückgegangen, wenn auch in geringerem Masse als bei den Ausfuhren. Die wenigen neu abgeschlossenen Freihandelsabkommen konnten das Handelsvolumen, welches aufgrund des Ausscheidens aus dem EU-Binnenmarkt verloren ging, in keiner Weise kompensieren.

Zwar wachsen andere Wirtschaftsräume stärker als die EU und auch die Schweizer Exporte in diese Märkte wachsen stärker als in die EU. Das ist gut so, weil sich damit die Handelsrisiken für die Schweizer Exportwirtschaft verkleinern. Das Handelsvolumen mit der EU ist aber so gross (2022: 58% aller Exporte und Importe), dass in absoluten Zahlen der Handel mit der EU noch immer stärker zunimmt als der Handel mit den zweit- und drittwichtigsten Märkten USA und China zusammen. Bei den heutigen Wachstumszahlen wird die EU auch 2050 noch immer die grösste Handelspartnerin der Schweiz sein und das Handelsvolumen mit den USA und China übertreffen. Es ist also illusorisch, die EU als wichtigsten Exportmarkt für die Schweizer Industrie durch andere Exportmärkte einfach ersetzen zu wollen. Viel besser ist eine Diversifizierung.

Frage: Muss die Schweiz mit den Bilateralen III bald sämtliche Regulierungen und Gesetze übernehmen, welche die EU beschliesst?

Antwort: Nein. Insgesamt verfügen die Schweiz und die EU über 140 bilaterale Abkommen. Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme beschränkt sich auf diejenigen Bereiche, wo die Schweiz am EU-Binnenmarkt teilnimmt. Das sind die fünf bestehenden Binnenmarktabkommen (Personenfreizügigkeit, Luft- und Landverkehr, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft) sowie die beiden neuen Abkommen zu Strom und Lebensmittelsicherheit. Zudem untersteht auch das neue Gesundheitsabkommen institutionellen Regeln, auch wenn dieses kein Binnenmarktabkommen ist und sich auf die Kooperation im Bereich der Gesundheitssicherheit beschränkt. Das Freihandelsabkommens Schweiz-EU von 1972 ist nicht Teil der aktuellen Verhandlungen über die Bilateralen III und untersteht daher auch nicht den institutionellen Regeln.

Paket

 

Frage: Wird die Schweiz in Zukunft von «fremden Richtern» gelenkt?

Antwort: In den bilateralen Verträgen sind sowohl heute als auch künftig keine «fremden Richter» vorgesehen. Es sind drei Arten von Rechtsfällen zu unterscheiden:

  1. Entsteht ein Rechtsstreit in der Schweiz, ist ein Schweizer Gericht zuständig.
  2. Entsteht ein Rechtsstreit in einem EU-Land, etwa Deutschland, ist ein deutsches Gericht und allenfalls der Europäische Gerichtshof EuGH zuständig.
  3. Gibt es Differenzen zwischen der EU-Kommission und dem Bundesrat über die Auslegung von Regeln, zum Beispiel im Landverkehr oder bei der Personenfreizügigkeit, dann kommt ein paritätisches Schiedsgericht zum Zug.

Das paritätische Schiedsgericht (z.B. mit drei von der Schweiz und drei von der EU ernannten Richtern sowie einem unabhängigen Präsidium) entscheidet künftig, welches Recht zur Anwendung kommt – Schweizer Recht, Vertragsrecht oder EU-Binnenmarktrecht. Hat die Schweiz das EU-Binnenmarktrecht vertraglich übernommen, z.B. technische Normen im Medtech-Bereich, entscheidet der EuGH über die Frage der Auslegung ausschliesslich des europäischen Binnenmarktrechts. Haben sich die Schweiz und die EU auf spezielle Regeln verständigt, etwa Spezialregeln und Ausnahmen für die Schwerverkehrsabgabe oder die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit, gilt dieses Recht. Dieses wird nur durch das paritätische Schiedsgericht ausgelegt.

Am Ende des Verfahrens wird das paritätische Schiedsgericht beurteilen, ob Bern oder Brüssel das Recht verletzt hat. Dies entspricht gängigen völkerrechtlichen Prinzipien: Die Schweiz hat in vielen ihrer Abkommen solche paritätischen Schiedsverfahren abgeschlossen.

Mit dem Streitschlichtungsmechanismus verbessert sich die Position der Schweiz verglichen mit heute. Sie erhält damit ein Instrument, um ihre Interessen in Bezug auf die betroffenen Binnenmarktabkommen auf dem Rechtsweg wirksam durchzusetzen.

Ausgleichsmassnahmen der EU bei Nichtumsetzung eines Entscheids des paritätischen Schiedsgerichts durch die Schweiz müssen verhältnismässig sein und können im Maximum bis zur Suspendierung von Abkommen gehen. Eine Kündigung ist ausgeschlossen. Eine Suspendierung ganzer Abkommen durch die EU dürfte jedoch kaum verhältnismässig sein, sollte die Schweiz einzelne Rechtsentwicklungen nicht übernehmen wollen. Die Prüfung der Verhältnismässigkeit der Ausgleichsmassnahmen erfolgt wiederum durch das paritätische Schiedsgericht.

Streitungsmechanismus

 

Frage: Verliert die Schweiz mit der «automatischen» Rechtsübernahme ihre Selbstbestimmung und die direkte Demokratie?

Antwort:

  1. Wir nehmen freiwillig am EU-Binnenmarkt teil: Das Schweizer Volk hat selbständig und autonom entschieden, bilaterale Binnenmarktabkommen mit der EU abzuschliessen. Niemand hat uns das aufgezwungen.
  2. Es gibt keinen Automatismus bei der Rechtsübernahme. Die Schweiz wird über jede einzelne Übernahme von Binnenmarktrecht innerhalb der Binnenmarktabkommen Schweiz-EU autonom entscheiden können. Die direktdemokratischen Entscheidungsprozesse der Schweiz werden dabei gewahrt: Für die dynamische Rechtsübernahme hat die Schweiz jeweils zwei Jahre Zeit. Sollte es zu einem Gesetzesreferendum kommen, wird der Schweiz ein zusätzliches Jahr zur Umsetzung zugesichert.
  3. Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme ist bereits heute im Luftverkehrsabkommen (Bilaterale I) sowie im Schengen/Dublin-Abkommen (Bilaterale II) verankert und hat seit deren Inkrafttreten 2002 bzw. 2008 zu keinerlei Problemen geführt. So konnte sich die Schweizer Stimmbevölkerung im Mai 2019 bspw. über die Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie im Schweizer Waffenrecht in einer Volksabstimmung äussern. Die «Interessengemeinschaft Schiessen Schweiz» hatte gegen die Umsetzung das Referendum ergriffen.
  4. Heute hat die Schweiz kein Rechtsmittel, wenn die EU ein Abkommen nicht mehr oder «falsch» anwendet. Die EU weigert sich z.B., das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse an die Rechtsentwicklung der EU anzupassen. Dadurch verliert die Schweiz in den betroffenen Bereichen – wie bspw. den Medizinprodukten – die Binnenmarktteilnahme. Allerdings kann sich die Schweiz heute nicht dagegen wehren, weil es keine Möglichkeit gibt, das paritätische Schiedsgericht zu einem solchen Fall anzurufen. Das würde sich mit den Bilateralen III in Zukunft ändern.
  5. Die Souveränität wird mit den Bilateralen III sogar weiter gestärkt: Es ist vorgesehen, dass die Schweiz bei der Entwicklung des relevanten EU-Binnenmarktrechts künftig wie die EU-Mitgliedstaaten systematisch konsultiert wird und ihre Anliegen im Rahmen des «decision shaping» aktiv einbringen kann. Eine klare Verbesserung gegenüber heute.

Frage: Handelt es sich beim Entwurf für das Verhandlungsmandat für die Bilateralen III nicht einfach um alten Wein in neuen Schläuchen? 

Antwort: Es gibt erhebliche Unterschiede und Verbesserungen im Vergleich zum damaligen Rahmenabkommen. Mit dem Paketansatz der Bilateralen III werden die institutionellen Fragen (dynamische Rechtsübernahme, Streitschlichtung) neu in jedem Binnenmarktabkommen individuell gelöst (vertikaler, sektorbezogener Ansatz). Das ist ein gewichtiger Unterschied zum institutionellen Abkommen (InstA), wo über ein Rahmenvertrag für alle Binnenmarktabkommen diskutiert wurde (horizontaler Ansatz).

Der Mandatsentwurf für die Verhandlungen mit der EU ist aus Sicht von economiesuisse denn auch eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum InstA. Neu wird nämlich über ein ganzes Paket an Abkommen und Kooperationen verhandelt, u.a. auch in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit, Forschung und Bildung. Besonders wichtig: Alle heiklen, sensiblen und unangenehmen Fragen wurden endlich einmal auf den Tisch gebracht und Landezonen für Lösungen ausgearbeitet.

Verbesserungen zeigen sich konkret an folgenden, im «Common Understanding» für die Verhandlungen vereinbarten Leitlinien:

  • Die beim InstA vorgesehene Einführung einer neuen Guillotine-Klausel ist vom Tisch
  • Die flankierenden Massnahmen (FlaM) sollten erfolgreich abgesichert werden können. Beim Lohnschutz soll es neu eine Nicht-Regressions-Klausel geben, mit welcher das Unterschreiten des heutigen Lohnschutzniveaus durch die künftige Rechtsentwicklung ausgeschlossen wird. Zudem garantiert die EU nun auch die Fortführung des sogenannten «dualen Vollzugsmodells» (Überwachungs- und Sanktionierungskompetenz durch die Schweizer Sozialpartner).
  • Die staatlichen Beihilferegeln der EU beziehen sich nur auf das Strom-, Luftverkehrs- und Landverkehrsabkommen. Der Service Public in der Schweiz wird dadurch nicht gefährdet.
  • Bei der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) soll es Ausnahmen beim Daueraufenthaltsrecht geben, um die Sozialsysteme der Schweiz angemessen zu schützen. Dieses steht nur erwerbstätigen Personen offen. Zudem sollen kriminelle EU-Staatsangehörige auch künftig ausgewiesen werden können.
  • Alle Ausnahmen sind von der dynamischen Rechtsübernahme ausgenommen.
  • Zurzeit sind keine Verhandlungen über eine Änderung des Freihandelsabkommens Schweiz-EU von 1972 geplant. Dieses ist nicht Teil dieser Verhandlungen.

Das alles sind elementare Verbesserungen, die die Schweizer Diplomaten der EU abgerungen haben.

Frage: Ist der Lohnschutz in der Schweiz mit der im Mandatsentwurf angestrebten Lösung gesichert?

Antwort: Die wichtigsten Fragen beim Lohnschutz für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnte gemäss Bundesrat zufriedenstellend geklärt werden. So hat die EU unter anderem die nachfolgenden Ausnahmen vom Entsenderecht akzeptiert:

  • eine Nicht-Regressions-Klausel (sollte die EU den derzeitigen Lohnschutz im Entsenderecht reduzieren, müsste die Schweiz diese Regeln nicht übernehmen),
  • eine Voranmeldefrist von vier Arbeitstagen aufgrund einer objektiven und branchenspezifischen Risikoanalyse,
  • die Kautionspflicht für Unternehmen, die in der Vergangenheit den finanziellen Verpflichtungen nicht nachgekommen sind und
  • Massnahmen zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit.

economiesuisse unterstützt den Erhalt des heutigen Lohnschutzniveaus. Die Wirtschaft steht voll und ganz hinter der Bekämpfung von Lohndumping. Ein Ausbau des Lohnschutzes, die Einführung von Mindestlöhnen oder sonstige sachfremde Anliegen werden jedoch klar abgelehnt.

Mit der Nicht-Regressions-Klausel wurde eine der Hauptforderungen der Gewerkschaften erfüllt. Zudem wird das duale Vollzugssystem (Überwachungs- und Sanktionierungskompetenz durch die Schweizer Sozialpartner) von der EU nicht eingeschränkt und die obenstehenden EU-bedingten Anpassungen bestehender FlaM werden mit innerstaatlichen Massnahmen ausgeglichen, um das Lohnschutzniveau zu halten. Darüber hinaus kann die Schweiz auch künftig FlaM zur Sicherstellung des Grundsatzes «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» ergreifen, sofern diese mit der Entsende- und der Durchsetzungsrichtlinie der EU vereinbar, d.h. nicht-diskriminierend sowie verhältnismässig sind.

Frage: Hat die Personenfreizügigkeit in der Schweiz zu einem tieferen Lohnniveau geführt?

Antwort: Nein. Bisher haben alle empirischen Studien und die Observatoriumsberichte des Seco bestätigt, dass die Einführung der Personenfreizügigkeit weder systematische Verdrängungseffekte zur Folge hatte noch zu einem tieferen Lohnniveau führte. Ganz im Gegenteil: Zwischen 2000 und 2023 sind die Reallöhne in der Schweiz im Schnitt um 0.5% pro Jahr gestiegen. In der Zeit vor der Covid-Krise (zwischen 2000 und 2020) waren es sogar 0.76% Reallohnwachstum pro Jahr. Dahingegen gab es vor der Einführung der Bilateralen zwischen 1994 und 1999 praktisch überhaupt kein Reallohnwachstum. Ausserdem sind seit Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit in der Schweiz auch die tiefsten Löhne gestiegen.

Lohnwachstum

 

Frage: Führen entsandte Arbeitnehmer zu Lohndumping in der Schweiz und gefährden so den Lohnschutz?

Antwort: Die volkswirtschaftliche Bedeutung der FlaM muss korrekt eingeordnet werden. 2022 betrug das von allen meldepflichtigen Kurzaufenthaltern (Entsandte, Selbständige und kurzfristige Stellenantritte bei Schweizer Arbeitgebern) geleistete Arbeitsvolumen 39’911 Vollzeitäquivalente. Das entspricht einem Anteil von 1.02% am gesamten Schweizer Arbeitsvolumen. Entsandte Arbeitnehmer selbst machten nur einen Anteil von 0.12% am gesamten Arbeitsvolumen in der Schweiz aus. Die Bandbreite des Anteils von meldepflichtigen Kurzaufenthaltern am totalen Arbeitsvolumen in den Kantonen reicht von 0.4% bis 2.6%. Selbst wenn alle entsandten Arbeitnehmer tiefere als in der Schweiz übliche Spesenvergütungen hätten – was nicht der Fall ist – könnten sie das Lohnniveau in der Schweiz nicht beeinflussen. Denn die Löhne müssen aufgrund des Prinzips «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» dieselben sein – mit oder ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Das ist auch in der EU so. Aus diesen Gründen ist bei der Übernahme des EU-Entsenderechts nicht mit systematisch negativen Auswirkungen auf das Lohnniveau in der Schweiz zu rechnen.

Lohnniveau

 

Frage: Droht aufgrund der Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) eine Einwanderung in die Schweizer Sozialsysteme?

Antwort: Beim Recht der EU-Bürger auf Aufenthalt und beim Anspruch auf Sozialleistungen bis zu fünf Jahren ist die Rechtslage in der EU und der Schweiz bereits heute vergleichbar: Beides ist an einen bestehenden Arbeitsvertrag geknüpft. Hier räumt die EU der Schweiz eine ausdrückliche Ausnahme ein, welche sie vor einer künftigen Änderung des EU-Rechts schützt. Zudem räumt der EuGH den EU-Mitgliedstaaten beim Anspruch auf Sozialleistungen von nicht erwerbstätigen Unionsbürgern aus einem anderen EU-Land einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Nicht erwerbstätige Unionsbürger, die sich allein mit dem Ziel, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, können von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen werden, urteilte der EuGH im November 2014.

Bei den Sondierungsgesprächen ist es der Schweiz gelungen, der EU wichtige Ausnahmen abzuringen, die in den Verhandlungen noch präzisiert werden müssen: So soll im Bereich der Sozialhilfe das neu vorgesehene Daueraufenthaltsrecht, dass die UBRL für EU-Staatsangehörige nach fünfjährigem Aufenthalt vorsieht, nur Erwerbstätigen und deren Familienmitgliedern offenstehen. Für sozialhilfeabhängige Personen wird es kein Daueraufenthaltsrecht geben.

Frage: Erhalten wegen der Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) künftig viel mehr Menschen ein Daueraufenthaltsrecht in der Schweiz?

Antwort: Bereits heute haben Angehörige von 15 EU- und EFTA-Staaten aufgrund des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) und von bilateralen Vereinbarungen einen Anspruch auf eine Niederlassungsbewilligung nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz. Mit der Übernahme von Teilen der UBRL würde dieser Anspruch auf alle übrigen EU-Mitgliedstaaten ausgedehnt. Die Folgen dieser Ausweitung dürften sich allerdings in Grenzen halten, da Angehörige der Nachbarstaaten mit den grössten Einwanderungskontingenten (Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich) schon heute ein Anrecht auf Daueraufenthalt nach fünf Jahren haben.

Frage: Können kriminelle EU-Staatsangehörige künftig nicht mehr ausgewiesen werden?

Antwort: Die Ausweisung von kriminellen EU-Bürgern wird aufgrund der Übernahme von Teilen der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) nicht erschwert. Konkret soll der Schweiz eine Ausnahme gewährt werden, wonach der in der Unionsbürgerrichtlinie geltende, verstärkte Schutz von kriminellen EU-Bürgern vor Ausweisung nicht gilt.

Die bisherigen Entscheide des Bundesgerichts zum Landesverweis von EU-Bürgern zeigen zudem, dass die Schweizer Praxis im Rahmen des den EU-Mitgliedstaaten zugestandenen Ermessensspielraums liegt: So wurde 2019 die Ausweisung eines zu 19 Monaten Freiheitsstrafe verurteilten, spanischen Staatsangehörigen wegen Drogenhandels bestätigt, weil er mit seinem Verhalten die öffentliche Ordnung und die Gesundheit vieler Menschen gefährdet hatte.

Frage: Droht wegen dem Stromabkommen als Teil der Bilateralen III der Schweiz eine vollumfängliche Strommarktliberalisierung? Ist der Service Public beim Strom gefährdet?

Antwort: Das ist nicht der Fall. Die EU unterstützt den Schweizer Vorschlag für ein Wahlmodell beim Strom. Mit diesem Modell hätten die Kleinkunden (Privatkunden und KMU) in der Schweiz künftig die Wahl, ob sie im System der sogenannten Grundversorgung (in welchem sie den Strom bei ihrem lokalen Netzbetreiber zu vordefinierten Preisen beziehen) verbleiben oder ihren Strom neu am freien Markt einkaufen möchten. Heute sind Frau und Herr Schweizer an den Stromanbieter der Wohngemeinde gebunden und damit den Entscheiden lokaler Behörden ausgeliefert. Hier soll nun eine Wahlfreiheit eingeführt werden. Wer das möchte, kann den Stromanbieter frei wählen. Es ist schwer verständlich, warum wir den Handyanbieter selbst wählen dürfen, der Staat uns aber beim Strom einen lokalen Grundversorger aufzwingt.

Ein Stromabkommen mit der EU ist ein wichtiges Element für die Verbesserung der Netzstabilität, die Stärkung der Versorgungssicherheit sowie die Schaffung von neuen Handelsopportunitäten für Schweizer Stromunternehmen, z.B. im Bereich der Wasserkraft. Zudem ist das Sparpotenzial enorm: Laut einer ETH-Studie im Auftrag von economiesuisse könnte die Schweiz mit einem Stromabkommen bis 2050 über 50 Milliarden Franken einsparen – das sind rund 150 Franken pro Haushalt und Jahr. Wir sparen so viel, weil wir mit einer Einbindung in Europa viele Systeme nicht doppelt aufbauen müssen.

Frage: Wird beim Landverkehrsabkommen der Service Public in der Schweiz gefährdet?

Antwort: Nein. Die EU fordert von der Schweiz im Kontext des Landverkehrsabkommens einzig, den internationalen Schienen-Personenverkehr (IPV) zu öffnen. Für Schweizer Bahnreisende ist damit ein Ausbau des Angebots internationaler Zugverbindungen zu erwarten. Neue Anbieter bräuchten diverse Schweizer Bewilligungen, müssten den Taktfahrplan berücksichtigen, die Tarifintegration respektieren sowie die Schweizer Arbeitsbedingungen einhalten. Der Service Public innerhalb der Schweiz ist nicht betroffen: Auswirkungen auf die Bahninfrastruktur sind ausgeschlossen und nicht Teil des Abkommens. Eine Liberalisierung des nationalen Verkehrs steht nicht zur Debatte.

Frage: Kann die Schweiz nicht auf das Abkommen zum Abbau technischer Handelshemmnisse (MRA) verzichten?

Antwort: Die schleichende Erosion des bilateralen Wegs ist eine Tatsache. Ohne Aktualisierung des MRA mit insgesamt 20 Produktekategorien würden ab 2026/2027 bis zu 60% der Schweizer Exportunternehmen die bisherige Teilnahme am EU-Binnenmarkt verlieren. Nach der Medtech-Branche folgen als nächstes die Maschinen-, Bau- und Pharmaindustrie. Aufgrund der hohen Bedeutung dieser Branchen für den Industriestandort Schweiz dürften die betriebswirtschaftlichen Anpassungskosten die Milliardenschwelle übersteigen. Das ist Geld, welches für Investitionen in innovative Produkte oder höhere Löhne für die Mitarbeitenden fehlt.

Schweizer Firmen sind zwar sehr anpassungsfähig und erfinderisch. Aufgrund der aktuellen Blockade sind sie aber gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die für den Wirtschaftsstandort Schweiz negativ sind. Das Medtech-Unternehmen Ypsomed musste bspw. 400 Produkte in Deutschland neu zertifizieren lassen, was über 20 Mio. CHF kostete und während 2 Jahren fast 40 Mitarbeitende in Anspruch nahm. Für KMU ist es noch schwieriger: Wenn eine kleine Schweizer Medtech-Firma (wie z.B. Bürki Innomed) einen Haftungsbevollmächtigten in der EU bestimmen muss, lagert sie sehr oft auch andere Firmenaktivitäten wie z.B. die Produktentwicklung nach Deutschland aus, weil das insgesamt günstiger kommt. Das Nachsehen hat dann der Firmenstandort Schweiz, weil die Innovation nicht mehr hier stattfindet. In der Summe schwächt dies nicht nur das Wachstumspotenzial des Wirtschaftsstandortes Schweiz, sondern auch unseren Wohlstand.

Frage: Ist das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU von 1972 für die Wirtschaft nicht vollkommen genügend? Braucht es die Bilateralen überhaupt?

Antwort: Gegner des bilateralen Wegs monieren immer wieder, dass eine umfassende Aktualisierung des EU-Freihandelsabkommen von 1972 ein Wegfall der bilateralen Verträge kompensieren könnte. Sie lassen dabei Folgendes ausser Acht: Der bilaterale Weg entspricht den Bedürfnissen der Schweiz und wurde für sie massgeschneidert, nachdem sie den EWR-Beitritt 1992 abgelehnt hatte. Man hat sich damals auf die bilateralen Verträge geeinigt, weil ein Freihandelsabkommen allein den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft bei weitem nicht genügend Rechnung getragen hätte.

Dass ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU weit entfernt von einer gleichwertigen Alternative zu den Bilateralen Verträgen ist, hat bereits 2015 ein Bericht des Bundesrates bestätigt. Technische Handelshemmnisse würden damit nicht abgebaut, Luftverkehrsrechte wären nicht abgedeckt, Schweizer Käse könnte nicht zollfrei in die EU exportiert werden, Schweizer Spediteure könnten nicht von zusätzlichen Auslandsaufträgen profitieren, Schweizer Firmen könnten nicht mehr an öffentlichen Ausschreibungen in Gemeinden und Regionen innerhalb der EU teilnehmen und es wäre viel schwieriger und bürokratischer, ausländische Fachkräfte aus der EU zu rekrutieren. Das ist nur eine kleine Auswahl von Beispielen.

Hinzu kommt, dass die Aushandlung eines umfassenderen Freihandelsabkommens mit der EU extrem viel Zeit beanspruchen würde und danach von Parlament und Volk bestätigt werden müsste. Viele Firmen werden sich aufgrund der grossen Rechtsunsicherheit lange zuvor entscheiden, gleich in der EU anstatt in der Schweiz anzusiedeln. Auch ein umfassendes Freihandelsabkommen wird institutionelle Regelungen enthalten, wie das Abkommen zwischen Grossbritannien und der EU zeigt.

Frage: Braucht es den Kohäsionsbeitrag an die EU?

Antwort: Der Kohäsionsbeitrag ist ein Element des Pakets der Bilateralen III, welches der Schweiz als Ganzes viele Vorteile bringt. Zudem liegt es auch im Interesse der Schweiz, die wirtschaftlichen Unterschiede im europäischen Binnenmarkt zu verringern, so dass die teilnehmenden Staaten zu attraktiven Zielmärkten mit höherer Kaufkraft heranwachsen. Davon profitiert letztlich unsere Exportwirtschaft, welche ein zentraler Pfeiler unseres Wohlstands ist. Zudem liegt es im politischen und wirtschaftlichen Landesinteresse, die Beziehungen mit den Empfängerstaaten in Mittel- und Osteuropa auszubauen. Die Verstetigung des Beitrags ist daher bei einem aus gesamtwirtschaftlicher Sicht zufriedenstellenden Ergebnis der Verhandlungen zu begrüssen.