Aufbruchstimmung in Ukraine

Die Ukraine ist in Aufbruchstimmung

Die Ukraine ist mit knapp 45 Millionen Einwohnern das siebtbevölkerungsreichste Land Europas und besitzt einen Drittel der gesamten europäischen Ackerfläche. Vier Jahre nach der Maidan-Revolution befindet sich das Land in einer Umbruchphase. Auf einer Wirtschaftsmission mit Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch wurde für Schweizer Unternehmen vor Ort Folgendes ersichtlich: Die neue Offenheit und das hohe Reformtempo der ukrainischen Regierung eröffnen viel Potenzial.

Die Ukraine führt in der westeuropäischen Wahrnehmung ein Schattendasein. Wenn es Nachrichten gibt, dann dominieren Krieg und Korruption die Schlagzeilen. Dabei passiert gerade sehr viel im siebtbevölkerungsreichsten Land Europas, wie die Vertreter einer Wirtschaftsmission mit Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch vor Ort erfahren.

Das Reformtempo bei Politik und Wirtschaft ist beeindruckend: Beispielsweise wurde innert kürzester Zeit die Rückerstattung der Mehrwertsteuer zum Funktionieren gebracht. Ein Anti-Korruptions-Gericht wurde ins Leben gerufen. Im Exportwesen ist der IT-Sektor in einer kurzen Zeitspanne an die dritte Stelle gerückt (nach der Metallurgie- und der Nahrungsmittelindustrie). Politisch und wirtschaftlich ist das Land daran, sich erfolgreich von seiner starken Abhängigkeit von Russland zu lösen und neue Beziehungen nach Westen aufzubauen. Während die Ukraine im «Ease of Doing Business»-Index der Weltbank 2012 noch an 140ster Stelle von 190 Ländern lag, rangiert es heute auf Platz 76.

Delegation im Gespräch
Die Delegation im Gespräch mit Oksana Markarova, Ukraines Finanzministerin ad interim.

Ungewohnte Offenheit von Regierungsvertretern

«Invest in Ukraine, now», legen denn auch die Regierung, Beraterfirmen und Investmentfonds den Schweizer Wirtschaftsvertretern nahe. Nicht nur sei es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch nie so gut um die Ukraine gestanden, auch die Regierung sei «unter anderem dank einer kritischen und lauten Zivilbevölkerung die transparenteste seit 27 Jahren», meinte eine ukrainische Regierungsvertreterin. Letzteres beweist sie gleich selbst: Unverblümt spricht sie über die Korruption, die in der Ukraine nach wie vor grassiert (im Korruptionsindex von Transparency International rangiert die Ukraine auf Platz 130 von 190 und gilt damit nach Russland als zweitkorruptestes Land in Europa), über den Rechtsstaat, auf den sich Unternehmen nicht immer verlassen können oder über den Fachkräftemangel, der aufgrund der hohen Abwanderung gut ausgebildeter Ukrainer nach Polen, Tschechien und in die westeuropäischen Länder vorherrscht (gemäss Schätzungen der ukrainischen Statistikbehörde arbeiten ungefähr fünf Millionen Ukrainer im Ausland). Man mache jedoch einen Fehler, wenn man die Ukraine mit der Schweiz vergleiche. Stattdessen müsse man sie mit der Ukraine von vor vier, fünf Jahren vergleichen, klingt es von ukrainischer Seite und von Unternehmensvertretern, die bereits vor Ort tätig sind. Man starte eben an einem tiefen Punkt bezüglich wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Doch stiesse man viel seltener auf taube Ohren als noch vor wenigen Jahren und es gebe äusserst motivierte Personen in den Administrationen, die anpacken und nach echten Lösungen suchen. Sie rechnen fest mit der Verbesserung von Flugverbindungen, Strassen und Bankensystem, einer effektiven Korruptionsbekämpfung und einem stärkeren Rechtsstaat.

Labor in Kiev
Besuch im Kiewer Labor des Schweizer Pharmaunternehmens Acino.

Unsicherheit dämpft das ansonsten grosse Interesse

Einige Unternehmensvertreter bleiben jedoch skeptisch: Schliesslich herrscht im Osten des Landes nach wie vor Krieg. Nächstes Jahr sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit offenem Ausgang, das Pro-Kopf-Einkommen ist tief (2018 voraussichtlich 2820 USD), Inflation (2018 voraussichtlich 11 Prozent) und Schuldenberg (2018: 78,3 Prozent des BIP) dagegen hoch. Verweigert zudem der IMF weitere Hilfszahlungen, droht ein Staatsbankrott. Die Wirtschaft insgesamt muss für eine Regeneration aus der tiefen Krise von 2014 und 2015 noch viel stärker wachsen als die für 2018 prognostizierten 3,3 Prozent. An wirtschaftspolitischen Herausforderungen fehlt es nicht.

Gelingt es der Ukraine allerdings, ihre strukturellen Probleme an der Wurzel zu packen, wird das Interesse von Schweizer Unternehmen in den nächsten Jahren stark zunehmen. Schliesslich wartet auf sie ein grosser, nahegelegener Markt mit riesigem Ackerland, gut ausgebildeten Leuten, vergleichsweise tiefen Lohn- und Energiekosten und viel Aufholbedarf bei den Infrastrukturen – und beim Konsum.