
Auf einen Blick
Die Vorgaben für die gymnasiale Ausbildung sind seit über 25 Jahren nicht mehr grundlegend überarbeitet worden. Die nun angestossene Reform muss vor allem die Studierfähigkeit der Maturandinnen und Maturanden sicherstellen. Nur so lässt sich das Privileg des prüfungsfreien Hochschulzugangs erhalten.
Das Wichtigste in Kürze
Die gymnasiale Maturität berechtigt zum prüfungsfreien Übertritt an die Hochschulen. Damit dies auch in Zukunft gewährleistet ist, wird die Matura momentan von der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) an die heutigen Anforderungen angepasst.
Position economiesuisse
- economiesuisse begrüsst, dass die gymnasiale Maturität weiterentwickelt wird. Die letzte umfassende Reform liegt über 25 Jahre zurück.
- Der prüfungsfreie Zugang zu den Hochschulen muss erhalten bleiben.
- Der Studien- und Berufswahlunterricht soll in allen Gymnasien verbindlich Einzug halten.
- Informatik ist heute unverzichtbar. Es muss ein Grundlagenfach werden und die MINT-Fächer müssen mehr Gewicht erhalten. Ebenso muss Wirtschaft und Recht ein Grundlagenfach werden.;
- Einerseits müssen die Pflichtfächer gestärkt werden, um die basalen Fähigkeiten stärker zu fördern. Andererseits sind zum Ende der gymnasialen Ausbildung mehr Freiheiten anzustreben, damit auch die Selbst- und Sozialkompetenzen und interdisziplinäres Arbeiten optimal gefördert werden können.
- Die Schwerpunkt- und Ergänzungsfächer sollten erst in den letzten beiden Jahren der gymnasialen Ausbildung belegt werden, damit eine bewusstere Wahl dieser Fächer erfolgt.
- Es sind dank einheitlicher Grundstrukturen und verbindlicher Ziele schweizweit vergleichbare Abschlüsse anzustreben, ohne die Gymnasialquote zu erhöhen.

Ausgangslage
Gymnasien sind beliebt wie nie: Umfragen und die Teilnahmezahlen an den Aufnahmeprüfungen belegen regelmässig die ungebrochen hohe Popularität der gymnasialen Ausbildung unter Schweizer Jugendlichen. Gleichzeitig gerieten die Gymnasien aber in den letzten Jahren zunehmend unter politischen Druck. Kritik kommt unter anderem von den Universitäten. Angesichts einer langsamen, aber stetigen Zunahme an Studierenden, sorgen diese sich um die Studierfähigkeit eines Teils der Maturandinnen und Maturanden und sehen den prüfungsfreien Hochschulzugang in Gefahr. Renommierte Bildungsexperten stimmen zu und verweisen auf veraltete Vorgaben. Die gymnasiale Matura sei in ihrer heutigen Form nicht mehr zeitgemäss. Die Kritik erstaunt nicht, denn die letzte Matura-Reform liegt über 25 Jahre zurück: Der Rahmenlehrplan für die Maturitätsschulen (RLP) wurde 1994 erlassen und das eidgenössische Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) bzw. die Maturitätsanerkennungsverordnung (MAV) stammen aus dem Jahr 1995.
Mit dem Ziel, die Qualität der Gymnasien zu erhalten, haben die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) eine Auslegeordnung zur gymnasialen Maturität erstellen lassen. An dessen Erarbeitung waren verschiedene Anspruchsgruppen beteiligt: Die Bandbreite reicht vom Verein Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und -lehrer (VSG) bis zu den Hochschulen. Dieser im Jahr 2019 veröffentlichte Bericht zeichnet insgesamt ein positives Bild der gymnasialen Maturität. Die Bildungsziele «allgemeine Studierfähigkeit» und «vertiefte Gesellschaftsreife» werden als weiterhin gültig erachtet. Als besonders positiv hervorgehoben werden die breite Allgemeinbildung, das Prinzip von Grundlagen- und Vertiefungsbereich, die hohe fachliche Kompetenz der Lehrpersonen und die Rolle der Kantone als «Labor» für neue Ideen. Doch die Analyse ortet auch Reformbedarf: Insbesondere der Rahmenlehrplan brauche eine Überarbeitung. Es fehle an vergleichbaren Anforderungen für alle Fächer, die Unterschiede bei den basalen Kompetenzen seien zu gross, und die überfachlichen Kompetenzen würden zu wenig gewichtet. Auch in Sachen Chancengerechtigkeit sieht der Bericht Verbesserungspotenzial.
Das Reformvorhaben wurde auf Basis dieses Berichts in vier Teilprojekte gegliedert:
- Überarbeitung des Rahmenlehrplans: Unter Berücksichtigung der kantonalen Lehrplanrevisionen der letzten Jahre sollen vergleichbare Anforderungen in den relevanten Fächern festgelegt werden. Auch die Kohärenz und die Anschlussfähigkeit an die Lehrpläne der Volksschule in den verschiedenen Sprachregionen sollen sichergestellt werden. Zusätzlich gilt es, klare Vorgaben zum Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen, zur Förderung der überfachlichen Kompetenzen, zum fächerübergreifenden Lernen sowie zur Wissens- und Wissenschaftspropädeutik zu formulieren.
- Umsetzung der Mindestdauer von vier Jahren für das Gymnasium: Die Mindestdauer des Maturitätslehrgangs soll auf vier Jahre harmonisiert werden. Hier sind insbesondere die betroffenen Kantone Waadt, Neuenburg, Jura und der französischsprachige Teil von Bern involviert.
- Überprüfung des Maturitätsanerkennungsreglements (MAR): Das geltende Reglement sowie die Maturitätsanerkennungsverordnung (MAV) sollen angepasst werden. Dies umfasst insbesondere die Bildungsziele, die Fächerstruktur sowie die Struktur des Maturitätslehrgangs. Die beiden Bildungsziele der allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Gesellschaftsreife sollen die Referenzpunkte für die Weiterentwicklung des Fächerkanons und der Struktur des Maturitätslehrgangs bilden.
- Regelung von Zuständigkeiten und Kompetenzen im Bereich Qualität: In diesem Teilprojekt soll die Governance auf gesamtschweizerischer Ebene analysiert und geklärt werden, wobei es einerseits um die Steuerung und andererseits um die Qualität gehen soll. Im Zentrum steht die Frage, wer die Verantwortung für die Qualität der gymnasialen Ausbildung tragen soll. Dazu sind die Zuständigkeiten und Kompetenzen der Akteure hinsichtlich der Ausbildungsqualität zu definieren.

Struktur der gymnasialen Ausbildung
Das Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) und die Maturitätsanerkennungsverordnung (MAV) bilden die Basis für die gesamtschweizerische Anerkennung der gymnasialen Maturität. Sie legen insbesondere die Bildungsziele der gymnasialen Ausbildung fest: die Hochschulvorbereitung («allgemeine Studierfähigkeit») und die Vorbereitung auf die Lösung anspruchsvoller Aufgaben in der Gesellschaft («vertiefte Gesellschaftsreife»). Obwohl die Ziele für alle gymnasialen Lehrgänge gelten, unterscheidet sich die Ausbildung an Schweizer Gymnasien stark. Die eidgenössischen Vorgaben regeln zwar Aufbau und Struktur, die Kantone geniessen innerhalb dieser Rahmenbedingungen aber eine relativ grosse Gestaltungsfreiheit.
Der Rahmenlehrplan (RLP) von 1994 bildet die Grundlage für die kantonalen und schulischen Lehrpläne. Im RLP werden für jedes Fach allgemeine Bildungsziele sowie Richtziele formuliert. Er ist inzwischen jedoch veraltet und seine Relevanz als Referenzdokument stark eingeschränkt. In der Mehrheit der Kantone wurden die Lehrpläne seit dem Jahr 2006 teilweise stark revidiert. Gleichzeitig wurde der RLP nur bedingt angepasst. Zu den wesentlichen Änderungen gehörte die Ergänzung durch einen Anhang zu den basalen fachlichen Kompetenzen für die Studierfähigkeit in der Erstsprache und in Mathematik (2016) sowie durch den Lehrplan für das obligatorische Fach Informatik (2017).
Maturitätsfächer
Wurde bis 1995 zwischen verschiedenen Maturitätsprofilen unterschieden, stellen sich Lernende durch die Wahl von Maturitätsfächern heute selbst ein Unterrichtsprogramm zusammen. Die Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen legt in Art. 9 die Maturitätsfächer fest: Das Angebot besteht aus den obligatorischen Grundlagenfächern und je einem wählbaren Schwerpunkt- und Ergänzungsfach sowie der Maturaarbeit. Die Grundlagenfächer machen den Grossteil des Schulstoffes aus und bilden die Basis der vertieften, ausgewogenen Allgemeinbildung. Der Kanon der Fächer wurde in den letzten Jahren nicht grundlegend verändert. Die Grundlagenfächer entsprechen im Wesentlichen den traditionellen Unterrichtsfächern:
- Grundlagenfächer: Nebst der Erstsprache, einer zweiten Landessprache sowie einer weiteren Fremdsprache, Mathematik, Geschichte und Geografie sowie Biologie, Chemie und Physik gehört auch ein künstlerisches Fach (Bildnerisches Gestalten und/oder Musik) zu den Grundlagenfächern.
Mit der Wahl des Schwerpunktfachs und des Ergänzungsfachs setzen die Lernenden ihre persönlichen gymnasialen Bildungsschwerpunkte. Heute kann aus acht Schwerpunkt- und vierzehn Ergänzungsfächern ausgewählt werden:
- Schwerpunktfächer: Alte Sprache, moderne Sprache, Physik und Anwendungen der Mathematik, Biologie und Chemie, Wirtschaft und Recht, Philosophie/Pädagogik/Psychologie, Bildnerisches Gestalten oder Musik.
- Ergänzungsfächer: Physik, Chemie, Biologie, Anwendungen der Mathematik, Informatik, Geschichte, Geografie, Philosophie, Religionslehre, Wirtschaft und Recht, Pädagogik/Psychologie, Bildnerisches Gestalten, Musik, Sport.
Insgesamt besteht somit ein relativ breites Angebot an wählbaren Fächern.
Zusätzlich sind das Fach Einführung in Wirtschaft und Recht sowie seit dem Jahr 2018 auch Informatik für alle Lernenden obligatorische Fächer, unabhängig von der Wahl des Schwerpunkt- und Ergänzungsfachs.
Gewichtung der Fächer
Der vorgeschriebene Anteil an der gesamten Unterrichtszeit für die Maturitätsfächer ist relativ «sprachenlastig» (Art. 11 MAV): Während für Sprachen ein Anteil von 30 bis 40 Prozent vorgesehen ist, liegen die Anteile für Mathematik und Naturwissenschaften (seit 2018 mit Informatik) bei 27 bis 37 Prozent, für jene der Geistes- und Sozialwissenschaften bei 10 bis 20 Prozent und für Kunst bei 5 bis 10 Prozent. Der Wahlbereich hat zusammen mit der Maturaarbeit einen relativ kleinen Anteil von 15 bis 25 Prozent. Die Bedeutung der Sprachfächer innerhalb der Grundlagenfächer wurde mit der MAR-Revision aus dem Jahr 2007 zwar etwas vermindert: Aus zwei Sammelnoten wurden sechs Einzelnoten für Biologie, Chemie, Physik und Geschichte, Geografie sowie Wirtschaft und Recht.
Die Maturitätsfächer, die im Maturazeugnis benotet werden, umfassen die Grundlagenfächer, das Schwerpunktfach, das Ergänzungsfach sowie die Maturaarbeit. Für die Maturitätsprüfung sind aber nicht alle Fächer gleich relevant: Schriftliche Prüfungen finden in mindestens fünf Maturitätsfächern statt – zusätzlich kann auch mündlich geprüft werden. Prüfungsfächer sind die Erstsprache, eine zweite Landessprache, Mathematik, das Schwerpunktfach sowie ein weiteres Fach. Die übrigen Grundlagenfächer werden nicht zusätzlich geprüft, dort gilt der Notenschnitt des letzten Jahres. Die Maturität gilt als bestanden, wenn in den Maturitätsfächern die doppelte Summe aller Notenabweichungen von 4 nach unten nicht grösser ist als die Summe aller Notenabweichungen von 4 nach oben und nicht mehr als vier Noten unter 4 vorliegen.
Neben den fachlichen werden auch die überfachlichen Kompetenzen (Art. 11 MAV) für die Erreichung der gymnasialen Bildungsziele erwähnt. Überfachliche Kompetenzen werden beispielsweise in den fünf Kompetenzbereichen des Rahmenlehrplans angesprochen (z. B. selbstständiges Urteilen, geistige Offenheit, Willenskraft, Kreativität, Neugier und Kommunikationsfähigkeit). Während die Anteile der Fächer klar geregelt werden, gibt es keine genaueren Vorgaben betreffend die fächerübergreifenden Arbeitsweisen. Untersuchungen zeigen, dass die Interdisziplinarität in den Lehrplänen in vielen Fällen nicht oder nur ungenügend berücksichtigt wird.

Forderungen von economiesuisse
Die Schweiz hat im internationalen Vergleich eine tiefe gymnasiale Maturitätsquote. Der unschlagbare Vorteil dieser tiefen Quote ist der prüfungsfreie Zugang zu den universitären Hochschulen und den eidgenössischen technischen Hochschulen. Mit Ausnahme der Medizin kann sich eine Person nach bestandener Matura frei für eine Studienrichtung entscheiden und das Studium ohne Aufnahmeprüfung beginnen, unabhängig davon, welche Schwerpunkte sie zuvor im Gymnasium gewählt hat oder welcher Notendurchschnitt erzielt worden ist.
Damit der prüfungsfreie Zugang erhalten bleibt, darf die gymnasiale Matura keinesfalls an Qualität einbüssen. Daher ist ihre Weiterentwicklung dringend nötig. Aus Sicht der Wirtschaft gilt es dabei folgende Punkte zu beachten:
Vorbereitung auf das Berufsleben
Die Gymnasien sollen die Maturandinnen und Maturanden optimal auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Dazu gehört nicht nur die Vermittlung der dafür notwendigen Kompetenzen im Unterricht, sondern auch eine angemessene Unterstützung bei der Wahl des richtigen Studiums bzw. des richtigen Berufs. Heute wird der Studien- und Berufswahlunterricht an vielen Gymnasien stiefmütterlich behandelt. Dieser sollte aber überall verbindlich Einzug halten. Dabei sollen die Tendenzen des technologischen Fortschritts im Auge behalten werden und es ist mit den Schülerinnen und Schülern zu thematisieren, welche Berufe voraussichtlich wichtiger bzw. weniger wichtig werden.
Obligatorischer Studienwahlunterricht und Laufbahncoaching: Die Auseinandersetzung mit der Wahl des Studiums ist heute teilweise schlecht in den Schulalltag integriert. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich erst spät und oft unzureichend mit ihrer Studienwahl und deren Konsequenzen auf ihr zukünftiges Erwerbsleben. Ziel muss es sein, dass die Studienwahl bewusster erfolgt, es weniger Fachrichtungswechsel- und Studienabbrüche gibt und die Berufswahl weniger stereotyp erfolgt, sodass zum Beispiel mehr Frauen MINT-Studiengänge wählen.
Der obligatorische Studienwahlunterricht darf sich nicht auf das Vermitteln von Informationen zu den Studiengängen beschränken. Anstelle der Studienfächer müssen die möglichen Berufe im Zentrum stehen. Während der gesamten letzten drei Jahre des Gymnasiums soll ein bewusstes Laufbahncoaching erfolgen. In diesem sollen mögliche berufliche Laufbahnen und monetäre Konsequenzen der Studienwahl aufgezeigt werden. Im Coaching sollen auch die eigenen Stärken, Schwächen und Interessen thematisiert werden. Diese beiden Perspektiven helfen den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, eine Studienwahl zu treffen, die erstens ihren Neigungen und Talenten entspricht und zweitens eine zufriedenstellende Berufsperspektive bietet. Nicht alles muss aber neu erfunden werden. Die bestehende Studienberatung sollte in diesen Prozess gut eingebunden werden.
- Obligatorischer Berufswahlunterricht im Langzeitgymnasium: In den ersten beiden Jahren des Langzeitgymnasiums (bei sechsjähriger gymnasialer Ausbildung ohne vorgängigen Besuch der Sekundarschule) sollte zusätzlich ein obligatorischer Berufswahlunterricht eingeführt werden. In der Sekundarschule spielt die Berufswahl eine wichtige Rolle, da die Kinder nach dem Abschluss mehrheitlich eine Lehrstelle antreten werden. Auch im Gymnasium sollten die unterschiedlichen Ausbildungslaufbahnen thematisiert werden, damit ein bewusster Übertritt ins Kurzzeitgymnasium bzw. ein Wechsel in eine Berufslehre erfolgen kann, falls sich dieser Weg für die betroffene Person besser eignet.
Kompetenzen der Zukunft fördern
Der Rahmenlehrplan und die kantonalen Lehrpläne sollten sich an Kompetenzen orientieren. An den Gymnasien müssen einerseits unverändert diejenigen Kompetenzen vermittelt werden, welche die Schülerinnen und Schüler benötigen, um an den Hochschulen erfolgreich ein Studium abzuschliessen. Es darf jedoch nicht zu einseitig auf die Kompetenzen für das Studium fokussiert werden. Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sollten auch in denjenigen Kompetenzen gefördert werden, die sie brauchen, um in der Zukunft in der Gesellschaft und im Berufsleben bestehen zu können. Daher braucht es folgende Anpassungen:
- Stärkerer Fokus auf die Kompetenzen für eine digitale Welt: Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, digitale Werkzeuge und Techniken richtig zu nutzen. Sie müssen einen bestimmten Sachverhalt in einem Modell abstrahiert darstellen können, um ihn danach mithilfe von Algorithmen und Daten abzubilden («computational thinking»). Diese Fähigkeit ist entscheidend, um die Funktionsweise von Computern und digitalisierten Prozessen zu verstehen. Ebenso müssen alle Maturandinnen und Maturanden programmieren können. Ihre diesbezüglichen Kompetenzen müssen besser sein als jene von Absolventen der Sekundarschule. Auf der Sekundarstufe I wird gemäss Lehrplan 21 beispielsweise gefordert, dass die Schülerinnen und Schüler «selbstentwickelte Algorithmen in Form von lauffähigen und korrekten Computerprogrammen mit Variablen und Unterprogrammen formulieren» können. Neben diesen technischen Fähigkeiten, die im Fach Informatik unterrichtet werden sollen, müssen auch die Informatikanwenderkompetenzen gefördert werden. Dies kann grundsätzlich in jedem Fach erfolgen. Es ist dabei aber auf eine sinnvolle Abstimmung zwischen den einzelnen Fachbereichen zu achten.
- Mehr Gewicht für MINT-Fächer: Die Digitalisierung führt zu Verschiebungen im Arbeitsmarkt. Klassische Jobs wie beispielsweise kaufmännische Berufe oder Notare werden an Bedeutung verlieren – technisch orientierte Berufe werden an Bedeutung gewinnen. Ingenieurinnen und IT-Spezialisten sind bereits heute auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt. Das World Economic Forum (WEF) nennt beispielsweise Datenanalysten, «AI and Machine Learning Specialists», Big Data-Spezialisten, Spezialisten im digitalen Marketing, Prozessautomatisierungsspezialisten usw. als Berufe, die am stärksten an Bedeutung gewinnen werden. Dieser rasche Wandel in der Berufswelt ist auch im Gymnasium zu berücksichtigen. Deshalb müssen die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) einen höheren Anteil an der gesamten Unterrichtszeit erhalten.
- «Soft Skills» werden immer wichtiger: Gemäss einer aktuellen Umfrage des WEF (2020) werden neben den IT-Kompetenzen insbesondere die Fähigkeit, kritisch und innovativ zu denken, Problemlösungsfähigkeiten, Selbstmanagement und das Zusammenarbeiten mit anderen Personen an Bedeutung zunehmen. In anderem Zusammenhang wird oft auch von den 4K-Kompetenzen (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken) gesprochen. Wie auch immer diese Kompetenzen genannt werden: Es ist wichtig, dass Selbst- und Sozialkompetenzen (bzw. überfachliche Kompetenzen) prominent im Rahmenlehrplan verankert sind. Der Beitrag jedes einzelnen Fachs zu diesen Kompetenzen muss in den jeweiligen Fachlehrplänen berücksichtigt werden.
- Wissensanwendung stärker fördern: Wissen, das nicht angewendet werden kann, ist wertlos. Deshalb ist die Wissensanwendung im Unterricht stärker zu fördern. Auch die Prüfungen müssen vermehrt die Wissensanwendung benoten. Im Art. 5 des MAR, der die Bildungsziele definiert, soll die Anwendung des Wissens und der erlernten Fähigkeiten stärker betont werden.
Mehr Pflicht
Im Gymnasium muss ein Grundstock an Kompetenzen vermittelt werden, über den alle Maturandinnen und Maturanden nach ihrem Abschluss uneingeschränkt verfügen. Dabei geht es einerseits um die basalen Fähigkeiten für die allgemeine Studierfähigkeit, andererseits um Kompetenzen in den Fächern Informatik und Wirtschaft und Recht.
Höhere Gewichtung der basalen Fähigkeiten am Anfang der gymnasialen Ausbildung: Gemäss EVAMAR II sind die Fächer Erstsprache, Mathematik, Englisch und Informatik-Benutzerwissen am wichtigsten für die allgemeine Studierfähigkeit. Aber nicht alle Maturandinnen und Maturanden weisen eine lückenlose Studierfähigkeit auf: Rund 20 Prozent der Mathematiknoten und der Noten in der Zweitsprache sind ungenügend. Den basalen Fähigkeiten ist daher eine hohe Stellung beizumessen. Sie müssen in den ersten Jahren am Gymnasium sorgfältig unterrichtet werden.
Kompensationsmöglichkeiten für Mathematik und Erstsprache einschränken: In der Mathematik und der Erstsprache sind keine Kompromisse zu machen. Diese Fächer sind für den Studienerfolg in vielen Fächern zentral. Solange eine Matura in allen Fachrichtungen zum Studium berechtigt, müssen alle, die sie absolvieren, Mindestanforderungen erfüllen. Deshalb sind die Kompensationsmöglichkeiten bei den Noten für die Fächer Mathematik und Erstsprache einzuschränken, indem hier negative Abweichungen beispielsweise doppelt zählen.
Informatik als Grundlagenfach: Informatik muss an den Gymnasien einen höheren Stellenwert erhalten. Es muss ein Grundlagenfach werden und dementsprechend als Maturitätsfach benotet werden. Denn die Informatik ist aus fast keinem Beruf mehr wegzudenken und jede und jeder muss sie in den Grundzügen verstehen, wie das weiter oben bereits dargelegt wurde. Dieser Ausbau des Informatikunterrichts darf jedoch nicht auf Kosten anderer MINT- Fächer erfolgen.
Stärkung des Fachs Wirtschaft und Recht: Das Fach Wirtschaft und Recht sollte ein Grundlagenfach werden, da es in allen Berufsfeldern und auch im Alltag nützlich ist, die Grundsätze der Wirtschaft und des Rechts zu kennen. Deshalb darf vor allem die Betriebswirtschaft (insbesondere allgemeine Buchhaltung und Unternehmensführung) nicht zu kurz kommen. In diesem Fach sollten auch Alltagskompetenzen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen (wie z. B. Steuererklärung, Bewerbungen schreiben) zur Sprache kommen.
Mehr Freiheiten und Interdisziplinarität am Ende der gymnasialen Ausbildung
Im vorherigen Abschnitt wurde mehr Pflicht gefordert. Diese Pflicht soll vor allem in den ersten beiden der vier Jahre dauernden gymnasialen Ausbildung (bzw. in den ersten vier Jahren bei einer sechsjährigen Dauer) zum Tragen kommen, damit die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten über eine gute Basis verfügen. Darauf aufbauend sollen in den letzten beiden Jahren mehr Freiheiten erlaubt und insbesondere die Interdisziplinarität stärker gefördert werden.
Interdisziplinäres Arbeiten stärker fördern: Interdisziplinäres Arbeiten wird in der heutigen Arbeitswelt immer wichtiger, insbesondere in der Forschung und Entwicklung. Interdisziplinarität sollte in den Gymnasien nicht nur in Form von Spezialveranstaltungen stattfinden, sondern als fixer Bestandteil des Stundenplans verankert werden. Dabei können auch die immer wichtiger werdenden überfachlichen Kompetenzen gefördert und es kann stark auf selbstorganisiertes Lernen (SOL) gesetzt werden. Der Rahmenlehrplan muss eine entsprechende Flexibilität zulassen, damit die Kantone und ihre Gymnasien moderne Unterrichtsformen anwenden können.
Interdisziplinarität basiert immer auch auf starken Kenntnissen der jeweiligen Disziplinen. Deshalb sollte die Interdisziplinarität erst in der zweiten Hälfte der gymnasialen Ausbildung im Rahmenlehrplan verankert werden, damit auf bereits gute basale Fähigkeiten zurückgegriffen werden kann. Dies hat zur Folge, dass am Ende des Gymnasiums weniger Fachunterricht stattfindet. Nichtsdestotrotz müssen die Schülerinnen und Schüler begleitet werden. Die Fachlehrpersonen braucht es daher auch in dieser Phase, allerdings in einer neuen Rolle.
Spätere Wahl der Schwerpunkt- und Ergänzungsfächer: Schwerpunkt- und das Ergänzungsfach sollen von den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in den letzten beiden Jahren ihrer Ausbildung belegt werden. Heute müssen sie diese Fächer teilweise bereits vor dem Eintritt ins Gymnasium wählen – also zu einem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Fähigkeiten und Neigungen noch nicht ausreichend kennen und sich auch noch kaum Gedanken zur Studienwahl gemacht haben.
Die Wahl dieser Fächer sollte im drittletzten Jahr vor der Matura erfolgen und sie sollten während der letzten beiden Jahre belegt werden. An der Anzahl Unterrichtseinheiten dieser beiden Fächer muss nichts geändert werden. Sie sollen einfach dichter auf zwei Jahre aufgeteilt werden. Der Kanton Aargau hat mit dieser Regelung gute Erfahrungen gemacht. Dort hat es sich gezeigt, dass bei einer späteren Wahl deutlich häufiger ein Schwerpunktfach aus dem MINT-Bereich gewählt wird, insbesondere von den jungen Frauen.
Qualitätssicherung: vergleichbare Abschlüsse
Die Gymnasien geniessen in der Schweiz viele Freiheiten. Indem weiterhin auf eine schweizweite Einheitsmatur verzichtet wird, werden sie auch in Zukunft über Autonomie verfügen. Um die allgemeine Studierfähigkeit und somit den prüfungsfreien Zugang zu den Hochschulen zu gewährleisten, braucht es jedoch schweizweit vergleichbare Abschlüsse, die gewissen Mindestanforderungen genügen.
- Vergleichbare Grundstrukturen in der gesamten Schweiz mit verbindlichen Zielen: Die Gymnasien sollten in der gesamten Schweiz über vergleichbare Grundstrukturen verfügen. Insbesondere müssen für das Bestehen der Matura verbindliche Ziele gelten, die zur Gewährleistung der allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Gesellschaftsreife von Maturandinnen und Maturanden zwingend erreicht werden müssen. Ebenso muss die Mindestdauer des Gymnasiums harmonisiert werden.
- Standardisierte Standortbestimmungen : Mithilfe von regelmässigen, standardisierten Standortbestimmungen (z. B. mittels sogenannten Lernnavigatoren) soll bei den Schülerinnen und Schülern der Stand der basalen Kompetenzen in allen Gymnasien verbindlich erfasst werden. So können diese gezielt gefördert werden, und die allgemeine Studierfähigkeit ist gewährleistet. Zudem ermöglichen sie den Schulen, die Qualität ihres Unterrichts besser zu steuern. Die Einführung einer schweizweiten Einheitsmatur macht hingegen keinen Sinn, da ansonsten in den Gymnasien ein «Teaching and learning to the test» stattfinden dürfte.
- Erfolgsquoten der Gymnasium-Abgänger an Hochschulen veröffentlichen: Die Studienerfolgsquote, das heisst der Anteil der Abgänger eines Gymnasiums, die später ein Hochschulstudium erfolgreich abschliessen, sollte veröffentlicht werden. Sie ist ein wichtiger Hinweis, wie gut ein Gymnasium in Bezug auf die allgemeine Studierfähigkeit ausbildet. Diese Information ist wichtig, um eine Diskussion über die Qualität der Gymnasien führen zu können, in vollem Bewusstsein, dass sie nur einer von vielen Qualitätsindikatoren ist.
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