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Beziehungen Schweiz-EU: Es ist Zeit, jetzt zu handeln

02.02.2022

Auf einen Blick

Die Wirtschaft fordert vom Bundesrat die Deblockierung der Europapolitik. Ein Zuwarten bis nach den Wahlen 2023 bringt zu grosse Schäden für den Standort Schweiz. Es ist Zeit, jetzt zu handeln, um die bilateralen Abkommen zu stabilisieren.

Das Wichtigste in Kürze

Die Wirtschaft spricht sich klar für die bilateralen Abkommen aus. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über das Rahmenabkommen erodieren diese zunehmend. Davon unmittelbar betroffen sind die Börse und Banken, die Medtech-Branche, der Schweizer Forschungsplatz sowie die Stromversorger. In diesen vier Bereichen sind Massnahmen prioritär. Gleichzeitig wird der Gesamtbundesrat zu Grundsatzentscheidungen in der Europapolitik aufgefordert. Die Regelung der institutionellen Fragen ist wichtig. Hier braucht es für die Wirtschaft eine Synchronisierung der Marktintegrationsabkommen und ein Verfahren zur Streitbeilegung. Ein Lösungsansatz besteht in sektoriellen Lösungen in Kombination mit allgemeinen Regeln.

Position economiesuisse

  • Die Erosion des bilateralen Wegs schadet dem Wirtschaftsstandort Schweiz und der EU. Sie schadet auch den gemeinsamen strategischen Interessen beider Partner.
  • Der Gesamtbundesrat wird aufgefordert, jetzt zu handeln, um die Europapolitik zu deblockieren und den Fortbestand des bilateralen Wegs zu sichern. Ein weiteres Zuwarten wird von der Wirtschaft abgelehnt.
  • Lösungen sind in den Bereichen Börse und Bankinstitute, Medtech, Forschung und Stromversorgung zu priorisieren.
  • Die Schweizer Unternehmen brauchen Rechtssicherheit in den Wirtschaftsbeziehungen mit der EU. Hierfür ist eine Klärung institutioneller Aspekte unerlässlich. Ein sektorieller Ansatz in Verbindung mit allgemeinen Regeln ist einer davon.
  • In der Innen- und Aussenpolitik braucht es Massnahmen zur Stärkung der Exportwirtschaft.
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Strategische Ausgangslage der Schweiz in der Europapolitik 

Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens am 26. Mai 2021 befindet sich die Schweizer Europapolitik in der Krise. Diese manifestiert sich insbesondere in folgenden Bereichen:

  • Die EU weigert sich, das bilaterale Abkommen über technische Handelshemmnisse nachzuführen.
  • Die EU verweigert der Schweiz die Assoziierung am EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe (2021 bis 2027) gemäss dem bilateralen Forschungsabkommen.
  • Sämtliche Verhandlungen über bilaterale Marktintegrationsabkommen sind blockiert.

Die Erosion der bilateralen Marktintegrations- sowie der Kooperationsabkommen hat somit begonnen und verursacht Schäden (siehe Kapitel: Europapolitische Blockade schadet der Wirtschaft). Für die Schweiz präsentiert sich folgende strategische Ausgangslage: Der Bundesrat hat trotz des beträchtlichen Schadenspotenzials weder einen konkreten Plan, wie der Schaden zu minimieren ist, noch wie es mit der Europapolitik insgesamt weitergehen soll. Dagegen wurde kommuniziert, dass in den kommenden zwei Jahren eine Auslegeordnung vorgenommen und ein politischer Dialog mit der EU angestrebt werde. Ein derart langes Zeitfenster ist jedoch nicht im Interesse der Schweizer Wirtschaft. Weitere Massnahmen der EU gegen die Wirtschaftsinteressen der Schweiz sind möglich. Die EU hat nach dem Treffen mit Bundesrat Ignazio Cassis am 15. November 2021 von der Schweizer Regierung ein Bekenntnis und eine verbindliche Roadmap über das weitere Vorgehen verlangt – und zwar bis zum nächsten Treffen. Dieses musste nach Absage des Weltwirtschaftsforums WEF auf noch unbestimmte Zeit verschoben werden.

Die Schweiz steht vor grossen strategischen Herausforderungen.

SWOT-Analyse aus Sicht der Schweiz
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Europapolitische Blockade schadet der Wirtschaft

Erosion der Abkommen

Aufgrund der fehlenden Bereitschaft der EU-Kommission, die bestehenden bilateralen Marktintegrationsabkommen an die Änderungen des EU-Acquis anzupassen, macht sich die Erosion der Teilnahmemöglichkeit der Schweiz am europäischen Binnenmarkt bereits in verschiedenen Bereichen unmittelbar und konkret bemerkbar. Sie betrifft insbesondere ortsgebundene KMU und innovative Branchen mit hoher Wertschöpfung und hohem Exportanteil. Auch MNU mit grossen Produktionsanlagen in der Schweiz sind betroffen.

Finanzdienstleistungen

  • Nichtanerkennung der Börsenäquivalenz durch die EU

Von der Nichtanerkennung der Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung durch die EU (seit Juli 2019) sind einerseits der Schweizer Börsenhandelsplatz SIX und an der Schweizer Börse kotierte Unternehmen betroffen. Die Schutzmassnahme des Bundesrats konnte die Abwanderung des Handels von Schweizer Beteiligungspapieren aus der Schweiz bislang verhindern. Die Nichtanerkennung hat andererseits auch negative Auswirkungen auf die EU-Aktivitäten von in der Schweiz kotierten Unternehmen.

  • Blockierung von offenen Äquivalenzverfahren/Umfassende Revision des EU-Finanzdienstleistungsrechts im Bereich des Drittstaatenregimes erschweren den Marktzugang für Bankdienstleistungen

Die Möglichkeiten für Schweizer Bankinstitute, aus der Schweiz Dienstleistungen für ihre Kunden in der EU zu erbringen, werden wegen der blockierten Äquivalenzanerkennungsverfahren zunehmend eingeschränkt. Zudem besteht in der EU ein Trend zur Erschwerung des grenzüberschreitenden Geschäfts der Banken aus Drittstaaten, das heisst, auch der Schweiz. Die teilweise Verlagerung gewisser Bankdienstleistungen in die EU kann den voraussichtlichen Schaden aus dem fehlenden Marktzugang nicht kompensieren. Ausserdem schädigen die Verlagerungen den Schweizer Finanzplatz.

Technische Handelshemmnisse

  • Blockierte Aktualisierung des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA) für Medizinprodukte

Bereits betroffen ist die Schweizer Medtech-Industrie, die ihre Produkte seit dem 26. Mai 2021 gemäss Drittstaatenbedingungen in den europäischen Binnenmarkt exportieren muss. Die einmaligen Anpassungskosten der Branche werden auf 110 Mio. Franken, die jährlich wiederkehrenden Kosten auf rund 75 Mio. Franken . Weil Medizinprodukte aus der EU ebenfalls zu Bedingungen für Drittstaaten in die Schweiz eingeführt werden müssen, ergeben sich Probleme, da sich die Einfuhr bei kleinen Volumen nicht lohnt. Rund ein Achtel aller Medizinprodukte, die heute aus der EU importiert werden, könnte davon betroffen sein. Die Ende Dezember 2021 von der Schweiz vorübergehend beschlossenen Vereinfachungen für den Import von EU-Produkten werden deshalb von der Branche begrüsst.

  • Absehbare Blockade bei weiteren Industrieprodukten

2023 soll eine Maschinenverordnung die bestehende Maschinenrichtlinie ersetzen. Diese soll ab 2025/2026 anwendbar sein. Ab diesem Zeitpunkt werden von der Richtlinie erfasste Maschinen aus der Schweiz als Produkte aus einem Drittstaat behandelt. In der Praxis unterliegt zwar nur eine Minderheit der Maschinen einer Drittzertifizierungspflicht. Dennoch werden die einmaligen Anpassungskosten für die betroffene Branche auf 300 bis 700 Mio. Franken und die jährlich wiederkehrenden Kosten auf 250 bis 500 Mio. Franken .

Ebenfalls ab 2025/2026 sollen die überarbeiteten Arzneimittelvorschriften in Kraft treten. Davon wird vor allem die Schweizer Pharmabranche betroffen sein. Hier wird mit einmaligen Anpassungskosten von 450 bis 900 Mio. Franken und jährlich wiederkehrenden Kosten von 250 bis 700 Mio. Franken .

Zusammengefasst drohen den betroffenen Branchen infolge Nichtaktualisierung des MRA jährliche

Forschung und betriebliche Innovation

Der Schweiz fehlt die volle Assoziierung an den EU-Forschungsprogrammen Horizon Europe, Euratom, Digital Europe und ITER. Dies führt zu Nachteilen für den Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz. Bei einem Drittel aller Forschungsprogramme ist die Schweiz vollständig ausgeschlossen, bei den übrigen braucht es eine Direktfinanzierung durch die Schweiz. Zudem ist die Projektleitung durch Schweizer Institutionen ausgeschlossen – gerade diese wäre jedoch für führende Forschungsinstitutionen wichtig.

Die betriebliche Innovationsförderung ist ebenfalls mit negativen Folgen konfrontiert. Beispielsweise erhalten Start-ups und KMU keine Beiträge mehr für internationale Innovationsprojekte.

Strombranche/Versorgungssicherheit 

Die EU verweigert den Abschluss eines bilateralen Abkommens mit der Schweiz im Bereich Strom. Dieser Ausschluss vom europäischen Strommarkt führt zu stetig steigenden Kosten von etwa 120 Mio. Franken pro Jahr. 2030 können sich diese gar auf über 300 Mio. Franken . Ausserdem ist spätestens ab 2025 mit Versorgungsengpässen im Winterhalbjahr und mit einer erhöhten Gefahr von Stromausfällen zu rechnen – dies primär als Folge einer zu geringen inländischen Stromproduktion. Die Kosten eines Blackouts werden auf 4 Mrd. Franken pro Tag . Davon betroffen wäre die gesamte Wirtschaft. Auch die Netzstabilität ist nicht mehr gesichert, da die EU die Schweiz aus den europäischen Koordinationsplattformen für Strom und aus ENTSOE – dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber – ausschliessen will.

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Gemeinsame wirtschaftliche Interessen der Schweiz und der EU

Die bilateralen Marktintegrationsabkommen sind sowohl für die EU als auch für die Schweiz von grosser wirtschaftlicher Bedeutung.

Personenfreizügigkeitsabkommen

Heute leben und arbeiten mehr als 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger in der . Von ihnen kommen täglich 340'000 Personen als Grenzgänger in die Schweiz, um einer Arbeit nachzugehen. Sie generieren ein durchschnittliches Erwerbseinkommen von 27 Mrd. Franken pro Jahr, welches in den grenznahen Nachbarregionen versteuert . Die in der Regel gut qualifizierten europäischen Fachkräfte tragen wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft bei.

Landverkehrsabkommen

Dank des Landverkehrsabkommens ist die Schweiz optimal in das europäische Verkehrsnetz eingebunden. Davon profitiert die , der Industriestandort, aber auch die EU: Jährlich durchqueren 900'000 europäische Lastwagen die Schweiz ohne grosse Verzögerungen. Es gibt auch positive Umweltaspekte: Das Landverkehrsabkommen trägt wesentlich zur Finanzierung der Verlagerung des alpenquerenden Güterverkehrs auf die Schiene bei.

Luftverkehrsabkommen

Das Luftverkehrsabkommen hat zu einer grösseren Auswahl von Flugverbindungen – insbesondere in die EU – und tieferen Preisen geführt. Dies ist für internationale Unternehmen in der Schweiz von grosser Bedeutung. Auch der Zürcher Flughafen als internationaler Hub hat von der Teilnahme am europäischen Luftverkehrsraum erheblich profitiert. Die EU profitiert ihrerseits stark von der Nutzung des Schweizer Luftraums, der zu den am dichtesten beflogenen in Europa zählt. Allein in den letzten elf Jahren wurden in der Schweiz durchschnittlich 1,2 Millionen Flugbewegungen pro Jahr registriert. Die Hälfte davon entfiel auf Transitflüge.

Technische Handelshemmnisse

Das MRA reduziert Zeit und Kosten für die Kommerzialisierung der Produkte auf dem betreffenden Auslandsmarkt. Dies erlaubte es Schweizer Industrieunternehmen bis anhin, sich erfolgreich in regionale Wertschöpfungsketten zu integrieren. Sie sind dabei auch wichtige Zulieferer von EU-Firmen. Dank der gegenseitigen Marktteilnahme und harmonisierter Industriestandards sind die Schweiz und die EU-Nachbarregionen zum führenden Industriestandort Europas . Unternehmen beider Seiten profitieren davon. Auch die Produktevielfalt in der Schweiz wird dadurch gestärkt (z.B. im Bereich Medizin). Für EU-Hersteller von Produkten mit kleinen Absatzvolumen in der Schweiz entstehen durch die Nichtaktualisierung des MRA neue Handelsbarrieren. Diese betreffen rund ein Achtel aller in der Schweiz vertriebenen Medizinprodukte.

Forschung und Innovation

Die Forschungsprogramme der EU leisten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Innovationsfähigkeit und letztlich zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit ganz Europas. Mit den Hochschulen ETH in Zürich und der EPFL in Lausanne könnten grundsätzlich zwei der 20 weltweit besten Universitäten an Horizon Europe . Mehr als 40 Prozent aller Forschenden an Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen sind zudem Bürgerinnen und Bürger aus der EU. Ohne eine enge Vernetzung ihrer Forschungseinrichtungen hat Europa gegenüber dem dominierenden Forschungsstandort USA und den immer stärker werdenden asiatischen Forschungseinrichtungen (insbesondere China) keine Chance, an der Weltspitze mitzuhalten. Auch die betriebliche Innovation in Europa nimmt Schaden. Im internationalen Vergleich hat gerade die Schweiz eine sehr hohe Dichte an innovativen Unternehmen.

Elektrizität

Insgesamt 41 unregulierte Stromleitungen verbinden die Schweiz mit dem Stromnetz der EU. Zehn Prozent des Stromtransits in Europa fliessen durch die Schweiz. Die Nachbarländer profitieren davon in hohem Masse. Bis zu 30 Prozent des zwischen Deutschland und Frankreich gehandelten Stroms werden durch die Schweiz geleitet. Solche Transitflüsse werden infolge der Energiewende in Europa weiter zunehmen und das Übertragungsnetz zusätzlich belasten. Zur nachhaltigen Stabilisierung des europäischen Stromnetzes ist der Einbezug der Schweiz im beidseitigen Interesse. Die Wasserkraftwerke in der Schweiz könnten im europäischen Stromnetz ausserdem eine wichtige Speicherfunktion für den Ausgleich der Stromschwankungen erneuerbarer Energiequellen spielen. Ein Blackout in der Schweiz würde unweigerlich auch die Stromnetze der Nachbarregionen in Mitleidenschaft ziehen und hohe Kosten verursachen.

Beidseitige Interessen überwiegen

Stabile und enge Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind nicht nur für einzelne Sektoren oder Politikbereiche, sondern insgesamt im beidseitigen Interesse. Eine Fragmentierung der europäischen Wirtschafts-, Forschungs- und Versorgungsnetzwerke schwächt mittel- und langfristig die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz des gesamten Kontinents. Neben der schädlichen Erosion von weiteren Teilen der Marktintegrations- und Kooperationsabkommen durch deren Nichtanwendung durch die EU sind auch die verpassten Opportunitäten mangels neuer Abkommen zu betonen. Diese betreffen sämtliche zentralen Politikbereiche wie die Klima- und Gesundheitspolitik oder die Digitalisierung und die Finanzdienstleistungen.

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Massnahmen der Schweiz zur Minimierung des wirtschaftlichen Schadens

Börsenäquivalenz

Da die EU die Schweizer Börsenregulierung noch immer nicht als gleichwertig anerkennt und die Notverordnung zum Schutz der Schweizer Börseninfrastruktur auf Ende Jahr 2022 ausläuft, hat der Bundesrat am 17. November 2021 beschlossen, diese um ein halbes Jahr zu verlängern und in ein ordentliches Gesetz .

Mit der Schutzmassnahme hat der Bundesrat das gesteckte Ziel einer Wahrung der Funktionsweise des Schweizer Kapitalmarktes bislang erreicht. Die Wirtschaft unterstützte dieses Vorgehen. Aus Sicht der Finanzwirtschaft muss das strategische Ziel allerdings weiterhin die unbefristete Äquivalenzanerkennung der Schweizer Börsenregulierung durch die EU-Kommission sein. Die Schweiz erfüllt diesbezüglich alle technischen Voraussetzungen.

Medizinprodukte

Als Gegenmassnahme zum Beschluss der EU-Kommission vom 26. Mai 2021, Schweizer Medizinprodukte fortan nicht mehr als gleichwertig anzuerkennen (Drittstaatenregelung), hat der Bundesrat seinerseits die Schweizer Medizinprodukteverordnung MepV geändert. Damit sollte die Versorgungssicherheit und Marktüberwachung im Bereich der Medizinprodukte in der Schweiz gewährleistet werden. Der Bundesrat hatte jedoch das von der EU übernommene Recht (MDR) noch zusätzlich verschärft (Swiss Finish). Dadurch wurden hohe Importhürden für ausländische Hersteller aufgestellt.

Die Wirtschaft lehnte dies klar ab: Die Ersatzmassnahmen im Bereich der Medizinprodukte und insbesondere der Swiss Finish verstossen gegen das MRA, sind nicht zielführend und teilweise gar kontraproduktiv. Ende 2021 konnte mit der Branche eine pragmatische Lösung gefunden werden. Dies hilft nicht nur der einheimischen Medtech-Industrie, sondern auch der Gesundheitsversorgung in der Schweiz.

Kohäsionsbeitrag

Die Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags wurde seitens der EU-Kommission als Voraussetzung für eine Aufnahme von Verhandlungen über eine Teilnahme der Schweiz an Horizon Europe genannt. Durch die Freigabe des bereits 2019 verabschiedeten Kohäsionsbeitrags ohne Auflagen hat die Schweiz die Spirale der Verknüpfung sachfremder Themen in der Europapolitik zu durchbrechen versucht. Der Bundesrat hat das dazugehörige Memorandum of Understanding mit der EU am 24. November 2021 genehmigt. Die Wirtschaft unterstützt dieses Vorgehen.

Die erhoffte Deblockierung der Schweizer Assoziierung am europäischen Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe ist bisher jedoch ausgeblieben.

Horizon Europe

Der Bundesrat hat am 17. September 2021 beschlossen, Übergangsmassnahmen bis zur angestrebten Assoziierung der Schweiz einzuleiten. Sie involvieren den Schweizer Nationalfonds, Innosuisse, die Europäische Weltraumorganisation ESA und weitere Akteure. Die geplanten Übergangsmassnahmen wurden dem Parlament mit einer Nachmeldung zum Voranschlag 2022 in der Wintersession 2021 unterbreitet. Zudem hat der Bundesrat am 20. Oktober 2021 das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung beauftragt, die Finanzierung von Schweizer Teilnehmenden an den ihnen offenstehenden Teilen von Horizon Europe sicherzustellen. Weitere Ergänzungs- und Ersatzmassnahmen werden bis 2023 geprüft. Diese sollen dann greifen, wenn es der Schweiz nicht gelingen sollte, sich als Vollmitglied an Horizon Europe zu beteiligen.

Der Massnahmenplan und die zeitliche Abfolge werden von der Wirtschaft unterstützt. Die Massnahmen können aber Möglichkeiten, welche die Vollassoziierung den Forschenden und Unternehmen eines Landes , nicht vollständig wettmachen. Deshalb bleibt die Assoziierung weiterhin das oberste Ziel.

Stromkrisenvorsorge

Am 1. Dezember 2021 haben die Penta-Länder (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich) mit der Schweiz ein Memorandum of Understanding zur Stromkrisenvorsorge unterzeichnet. Dadurch befindet sich die Schweiz in einer besseren Ausgangslage, um bei Lieferengpässen mit den Nachbarländern zusammenzuarbeiten, was positiv gewertet wird. Die Teilnahme am europäischen Strommarkt kann diese auf Krisensituationen beschränkte Zusammenarbeit aber nicht ersetzen.

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Nach dem Verhandlungsabbruch: Konkrete Forderungen der Wirtschaft

Für eine aktive Europapolitik

economiesuisse hat gemeinsam mit ihren Mitgliedern Hauptforderungen an die Schweizer Europapolitik ausgearbeitet. Dabei steht die Frage im Zentrum, was die Wirtschaft von der Europapolitik in den kommenden zwei bis drei Jahren braucht und wo genau die Prioritäten zu setzen sind. Um in den priorisierten Bereichen rechtzeitig Lösungen erreichen zu können, muss jetzt gehandelt werden. Eine Politik des «Zuwartens» bis nach den eidgenössischen Wahlen im Jahr 2023 wird klar abgelehnt. Nachdem der Gesamtbundesrat die Verhandlungen über das Rahmenabkommen einseitig abgebrochen hat, steht er nun in der Verantwortung, die Zukunftsfähigkeit der Europapolitik zu gewährleisten. Die Forderungen sind in vier Themenfelder aufgeteilt:

  1. Grundsatzentscheide
  2. Prioritäre Bereiche und Auffangmassnahmen
  3. Institutionelle Forderungen
  4. Forderung nach einer gezielten Strukturpolitik zur Stärkung der Exportwirtschaft

Grundsatzentscheide des Bundesrats zur Deblockierung der Europapolitik

Es ist Zeit, jetzt zu handeln. Ein Zuwarten in der Europapolitik bringt der Schweiz klare politische und wirtschaftliche Nachteile. Deshalb verlangt die Wirtschaft, dass der Gesamtbundesrat unverzüglich die Deblockierung der Europapolitik an die Hand nimmt. Anerkanntes und breit abgestütztes Ziel der Schweizer Europapolitik ist die Fortsetzung des bilateralen Wegs – auch die EU hat ihr Interesse hierzu mehrfach bekundet. Die Deblockierung setzt drei Grundsatzentscheide des Gesamtbundesrats voraus:

1. Fortsetzung der fünf bilateralen Marktintegrationsabkommen

  • Der Bundesrat steht vor der Grundsatzentscheidung über die Fortsetzung der fünf bestehenden Marktintegrationsabkommen. Will er deren Fortsetzung, dann braucht es seitens der Schweiz auch ein klares Bekenntnis zur Lösung der institutionellen Fragen mit der EU. Denn es gibt seit 2018 keinen einzigen Hinweis, dass die EU ohne deren Klärung zu einer Fortsetzung der bestehenden Marktintegrationsabkommen bereit ist.
  • Entscheidet sich der Bundesrat, die Marktintegrationsabkommen nicht weiterzuführen, muss er eine europapolitische Alternative zur Regelung der Wirtschaftsbeziehungen entwickeln. Dies beinhaltet auch die aktualisierte Prüfung eines umfassenden Freihandelsabkommens mit dessen staatspolitischen sowie wirtschaftlichen Vor- und Nachteilen.

economiesuisse ist klar für eine Fortsetzung der fünf bilateralen Marktintegrationsabkommen. Es sind auf absehbare Zeit keine europapolitischen Alternativen ersichtlich, die eine gleichwertige Marktteilnahme gewährleisten und politisch mehrheitsfähig sind.

2. Aktive Ausarbeitung einer gemeinsamen Agenda

  • Basierend auf den gemeinsamen strategischen Interessen der Schweiz und der EU muss der Bundesrat zügig eine Agenda entwickeln und diese der EU vorschlagen. Sie soll sowohl kurzfristige Prioritäten für die nächsten zwei Jahre, wie auch mittelfristige Perspektiven aufzeigen.
  • Mit Blick auf die mittelfristige Zeitachse dieser Agenda sind die wirtschaftlichen Fragen des bilateralen Wegs aus der Perspektive der grundsätzlichen, strategischen Ziele beider Seiten festzulegen: Der Bundesrat und die EU sollen konkret definieren, wie sie bei den gemeinsamen strategischen Interessen im Industrie- und Finanzsektor, bei der Forschung und Innovation, den Infrastrukturen (Land- und Luftverkehr, Stromversorgung) sowie bei der Klima- und Gesundheitspolitik zusammenarbeiten wollen.

3. Aktive Durchsetzung der Schweizer Interessen

  • Die Wirtschaft verlangt die fortgesetzte Anwendung aller bilateraler Abkommen, die in Kraft sind (pacta sunt servanda).
  • Sollte die EU die Anwendung der bestehenden Abkommen weiterhin verweigern, so sind juristische Massnahmen zu prüfen und einzusetzen. Dies umfasst auch die rechtliche Unterstützung von klagewilligen Unternehmen und Organisationen, die sich auf dem Gerichtsweg gegen diskriminierende Massnahmen der EU wehren wollen. Ebenfalls soll die Schweiz bei fortgesetzten oder neuen Diskriminierungen bestehende Klagemöglichkeiten beim Europäischen Gerichtshof oder der WTO nutzen.

Prioritäre Bereiche und Auffangmassnahmen

Prioritäre Bereiche

Für economiesuisse sind in den kommenden zwei Jahren Lösungen in vier Bereichen prioritär:

  • Äquivalenzanerkennung bei den Finanzregulierungen für Drittstaaten (Börsenregulierung, Finanzdienstleistungen) sowie Marktzugang für Bank- und Wertpapierdienstleistungen.
  • Massnahmen zum Abbau technischer Handelshemmnisse bei Medizinprodukten, weiteren Industrieprodukten und Produktionsverfahren bei Medikamenten.
  • Forschung und betriebliche Innovationsförderung.
  • Strommarkt und Versorgungssicherheit.

In diesen vier Bereichen ist der wirtschaftliche Schaden für Schweizer Unternehmen sowie deren Lieferanten und Kunden in der EU erheblich. Auch für den Forschungsplatz entstehen Nachteile. Der Schaden ist bereits entstanden oder wird in den kommenden zwei Jahren eintreten. Dies für den Fall, dass die EU ihren Kurs der Nichtanwendung bestehender Abkommen fortsetzt, wovon zum aktuellen Zeitpunkt auszugehen ist. Diese Schäden können nicht einfach passiv in Kauf genommen werden, sondern sind durch ein Massnahmenpaket zu minimieren.

Auffangmassnahmen in den prioritären Bereichen

Die unmittelbaren und direkten Schäden, die sich aus dem einseitigen Verhandlungsabbruch der Schweiz ergeben, sind mit folgenden Auffangmassnahmen schnellstmöglich zu minimieren:

  • Schweizer Börsen- und Finanzplatz: Verbesserungen der fiskalischen und regulatorischen Rahmenbedingungen zur Stärkung von dessen internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Des Weiteren ist der grenzüberschreitende Marktzugang für Bank- und Wertpapierdienstleistungen aus der Schweiz durch praktikable Ansätze gemäss der Finanzmarktstrategie des Bundesrats (Dezember 2020) zu verbessern.
  • Medizinprodukte: Bei der MepV sollen keine Regeln eingeführt werden, die weitergehen als die MDR und den Handel erschweren (kein Swiss Finish).
  • Forschung und betriebliche Innovationsförderung: Wenn die EU der Schweiz die Assoziierung am Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe weiterhin verweigert, soll der Bund in den kommenden zehn Jahren zusätzliche Mittel in Forschung und Innovationsförderung investieren. Diese Mittel sind zur Förderung von Projekten sowohl in Europa als auch in Drittstaaten (bei Projekten mit einem genügenden Schweizer Bezug) einzusetzen. Die betriebliche Innovationsförderung ist in Zusammenarbeit mit den führenden Wirtschaftsstandorten zügig auszubauen.
  • Energiepolitik: Ohne Stromabkommen mit der EU braucht die Schweiz eine grundlegende Anpassung ihrer Energiestrategie. Zudem braucht es in der Schweiz Investitionen in die Netzstabilität.

Diese Auffangmassnahmen sind jetzt einzuleiten, da es mehrere Jahre dauern dürfte, bis die Europapolitik vollständig deblockiert ist.

Zudem fordert die Wirtschaft Effizienzsteigerungen bei den Lohnschutzmassnahmen und flankierenden Massnahmen durch deren Digitalisierung. Die Digitalisierung soll Anmeldungen, Nachweise sowie Kontrollen vereinfachen. Dies erhöht die Effektivität der Massnahmen und reduziert die Kosten. Dank der Digitalisierung kann auch die Voranmeldefrist stark verkürzt werden.

Institutionelle Forderungen: Wirtschaft braucht Rechtssicherheit

Die Schweizer Unternehmen brauchen Rechtssicherheit bezüglich der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU. Hierfür ist eine Klärung institutioneller Aspekte unerlässlich.

Sektorieller Ansatz in Kombination mit allgemeinem Abkommen zur Regelung der Marktteilnahme

  • Es ist Sache des Gesamtbundesrats, institutionelle Lösungen gemeinsam mit der EU anzustreben und auszuhandeln. Dabei gibt es mehrere Möglichkeiten.
  • Da die institutionellen Regeln nur die bestehenden fünf Marktintegrationsabkommen (Personenfreizügigkeit, Land-, Luftverkehr, Technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft) betreffen, können diese auch in den jeweiligen Abkommen geregelt werden.
  • Zusätzlich lassen sich grundsätzliche, für alle Marktintegrationsabkommen geltende Regeln in einem allgemeinen «Abkommen zur Regelung der Marktteilnahme» festhalten.

Synchronisierung der Marktintegrationsabkommen und Äquivalenzanerkennung

  • Für die Unternehmen ist die zeitgerechte Nachführung der Marktintegrationsabkommen an das massgebliche EU-Recht zentral für die Teilnahme am Binnenmarkt. Für die Unternehmen entstehen Probleme, wenn die EU die Nachführung blockiert.
  • Diese Synchronisierung ist besonders zentral bei technischen Handelshemmnissen sowie beim Land- und Luftverkehr.
  • Auch bei den Äquivalenzverfahren ist die rechtzeitige Anerkennung der Schweizer Regeln wichtig.

Rechtsverfahren zur Streitbeilegung im Interesse der Schweiz

  • Gleichermassen bedeutend ist ein Mechanismus zur Streitbeilegung: Können sich die Schweiz und die EU bei einer Streitfrage politisch nicht einigen, braucht es ein ausgewogenes Rechtsverfahren zur Streitschlichtung.
  • Auf politisch motivierte Retorsionsmassnahmen beider Seiten zulasten der Unternehmen ist zu verzichten.

Forderung besserer Rahmenbedingungen für die Exportwirtschaft

Da die Exportwirtschaft am stärksten von den fortgesetzten Nadelstichen der EU betroffen ist, braucht es strukturelle Massnahmen zur gezielten Stärkung der Exportwirtschaft. Diese werden umso dringlicher, je mehr die EU die Anwendung bestehender Abkommen verweigert. Für die Schweizer Aussenwirtschaft sind nicht nur die Beziehungen zur EU, sondern auch der Multilateralismus (WTO) und die bilateralen Beziehungen zu anderen wichtigen Handelspartnern strategisch äusserst bedeutsam. Bei Letzteren dürften insbesondere die USA und China weiter an Bedeutung gewinnen. Daraus abgeleitet, lassen sich folgende Handlungsfelder skizzieren:

  • Verbesserung der guten steuerlichen Rahmenbedingungen des Schweizer Wirtschaftsstandorts unter Berücksichtigung der OECD-Standards.
  • Konsequenter Ausbau des Freihandelsnetzes der Schweiz: Abschluss neuer Abkommen (insbesondere Mercosur, Malaysia, Vietnam, USA, Indien und Australien) sowie Modernisierung bestehender Freihandelsabkommen (insbesondere Kanada, China, Mexiko, Japan, Südkorea). Bei den Freihandelsabkommen ist die Verknüpfung der Ursprungsregeln (Kumulation) mit den Partnerländern anzustreben.
  • Abkommen auf dem Gebiet des digitalen Handels (multilateral und bilateral, «stand alone» oder als Teil von Freihandelsabkommen).
  • Rasche und proaktive Prüfung einer Teilnahme an plurilateralen Freihandelszonen mit Schwerpunkt Pazifik/Asien/Afrika (z.B. RCEP, CPTPP, AfCFTA).
  • Teilnahme an relevanten, plurilateralen und handelserleichternden WTO-Initiativen (z.B. Healthcare Products Initiative)
  • Reduktion nicht-tarifärer Handelshemmnisse durch globale Harmonisierung (z.B. GHS)
  • Stärkere Gewichtung aussenwirtschaftlicher Prioritäten: Da die Schweiz auf eine Stärkung der Exportwirtschaft angewiesen ist, können künftig rein innenpolitisch motivierte Partikularinteressen weniger stark berücksichtigt werden. Stichworte: Agrarprotektionismus, Verzicht auf Technologieverbote (z.B. Gentech-Verbote), Verzicht auf unilaterale Massnahmen (Swiss Finish, z.B. Lebensmittelvorschriften), Verzicht auf Exportverbote/-restriktionen (z.B. Pflanzenschutzmittel), Prüfung gewerkschaftlicher Macht- und Finanzinteressen.
  • Rasche Umsetzung der beschlossenen Abschaffung sämtlicher Importzölle auf Industrieprodukte.
  • Steigerung der Attraktivität des Schweizer Wirtschaftsstandorts für ausländische Direktinvestitionen. Verzicht auf staatliche Investitionskontrollen und andere protektionistische Massnahmen.
  • Digitalisierung der Verwaltungsabläufe zur Senkung der Kosten für die Exportunternehmen.
  • Ausbau der Exportförderung.
  • Weiterentwicklung des konsularischen Schutzes der Unternehmen.

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