Höchste Zeit, das energiepolitische Kriegsbeil zu begraben

Geht es um klimaneutrale Energie, kämpfen oft Solarturbos gegen Atombarone und Wasserkraftfreunde gegen Windpäpste. Das können wir uns nicht länger leisten.

Die gegenwärtige Energiepolitik gleicht einem Autounfall in Zeitlupe, dem man als Bürger ohnmächtig zuschauen muss. Deutschland zeigt sogar, dass man kurz vor dem Aufprall noch aufs Gaspedal drücken kann: Im April ist unser nördliches Nachbarland endgültig aus der Kernenergie ausgestiegen. Dies wohlverstanden, obwohl noch nicht genügend erneuerbare Energie zugebaut worden ist und die Kohle, die in die energetische Bresche springen muss, keineswegs mit den ambitionierten Klimazielen des Landes vereinbar ist. Deutschland wird seine Stromlücke künftig mit Strom aus dem Ausland schliessen müssen, der wahrscheinlich zu grossen Teilen aus Frankreich Kernkraftwerken stammen wird. Die «Heute Show» im ZDF kommentierte dies ätzend und verglich die gegenwärtige deutsche Energiepolitik mit einer missglückten Form der Fernsehshow «Wetten, dass ...?», in welcher die Ampelkoalition die halsbrecherische Wette eingeht, aus Kohle- und Kernenergie gleichzeitig aussteigen zu können. Top, die Wette gilt! Die absurde Entwicklung in Deutschland lässt sich nur mit erstaunlich ideologischen Gräben erklären, vor welchen auch die Schweiz nicht gefeit ist. Zwar ist hierzulande nicht mehr ernsthaft von einem schnellen Ausstieg aus der Kernkraft die Rede – bis auf die etwas abstruse Forderung der Grünen, die wohl dem Wahljahr geschuldet ist.

Doch kann man auch in der Schweiz recht klare ideologische Linien zwischen den «Atombaronen», «Solarturbos, «Wasserkraftfreunden» und «Windpäpsten» ziehen. Die Fürsprecher verschiedener Technologien überbieten sich darin, die Vorteile der jeweiligen Technologie in den Vordergrund zu rücken und die Risiken und Kosten anderer Technologien zu betonen. Und auch in der Schweiz zeichnet sich ab, dass der eingeschlagene Weg uns in die dreckigen Arme der fossilen Energien treibt, wie die Energiepolitiker Martin Bäumle (GLP) und Roger Nordmann (SP) kürzlich in einem vielbeachteten Artikel feststellten. Klar ist: Wir müssen unsere Stromproduktion bis 2050 für die Versorgungssicherheit verdoppeln. Und klar ist auch, dass dieser Strom klimaneutral sein muss, sonst werden wir unserer Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel und für unsere Nachkommen niemals gerecht.

Ein Nebeneffekt der schieren Grösse dieser Herausforderung ist, dass sich die Gretchenfrage, welche Technologie uns denn dereinst mit Strom versorge, gar nicht mehr stellt: Wir brauchen jetzt viel von allen klimaneutralen Stromquellen. Wir brauchen Wasser-, Solar-, Wind- und Kernenergie und wohl auch neue Technologien wie Geothermie oder Fusionskraft obendrauf, sollten diese einst die Marktreife erlangen. Zu heutigen Preisen werden wir 2050 deutlich über zehn Milliarden Franken für Strom ausgeben – pro Jahr. Die von Ideologen gehegten Befürchtungen, dass der Ausbau der einen Technologie der anderen den sprichwörtlichen Platz an der Sonne stiehlt, sind also offensichtlich unbegründet. Der Kuchen ist für alle gross genug. Übrigens hat das Unternehmen BKW auch errechnet, dass besonders für den gefragten Winterstrom eine breit diversifizierte Stromproduktion auch noch zwei Drittel günstiger kommt als energiepolitische Monokulturen. Diversität bringt’s auch in der Energiepolitik. Es ist daher höchste Zeit, das energiepolitische Kriegsbeil zu begraben. Welche Technologie zur Stromerzeugung exakt welchen Beitrag zur Versorgungssicherheit 2050 leisten wird, kann heute schlicht nicht sinnvoll bestimmt werden und hängt von kaum prognostizierbaren Faktoren wie Technologieentwicklung, Strompreisen, Lieferketten und auch regulatorischen Rahmenbedingungen ab. Energiepolitikerinnen und Energiepolitiker sollten ihre Ideologie ablegen und planwirtschaftlichen Ambitionen entsagen.

Das heisst:

  • Verfahren für den Stromausbau müssen beschleunigt werden. Das Bonmot «Die fünfte Landessprache ist die Einsprache» trifft durchaus zu. Heute brauchen Stromleitungen und Windparks um die zwanzig Jahre, bis sie gebaut werden. Wenn die Baubewilligung endlich vorliegt, ist das bewilligte Projekt oft technisch bereits veraltet.
  • Leistungsorientierte und technologieneutrale Vergabe von Fördermitteln. Im Moment werden Fördermittel vor allem politisch vergeben. Eine effiziente Ausrichtung auf den dringend benötigten Winterstrom findet nicht statt.
  • Aufhebung des Kernkraftverbots. Auch diese Technologie entwickelt sich schnell. Es wäre in Anbetracht der fehlenden Versorgungssicherheit töricht, Türen voreilig zu schliessen.

Wir können uns den Luxus von ideologischen Grabenkämpfen und politischem Geplänkel nicht weiter leisten. Aber wenn wir die Gräben überwinden, lässt sich der energiepolitische Totalschaden vielleicht doch noch vermeiden.

 

Die Erstpublikation dieses Beitrags erfolgte am 30. April 2023 in der NZZ am Sonntag.