Gaslager in den EU-Staaten sind zu 80 Prozent gefüllt. Also viel Geschrei um nichts?

Ende Juni hat die EU die Gasspeicher-Verordnung beschlossen. Diese sieht vor, dass die unterirdischen Gasspeicheranlagen in den Mitgliedstaaten bis zum 1. November 2022 zu mindestens 80 Prozent gefüllt sein müssen. Im nächsten Jahr sollen es dann 90 Prozent sein. Wie sich nun zeigt, haben in letzter Zeit die Füllstände in den einzelnen EU-Staaten deutlich zugelegt.

Zwei Monate vor dem Stichtag betragen die Gasfüllstände im EU-Raum im Durchschnitt schon rund 80 Prozent. Gerade die grossen Länder Deutschland, Italien und Frankreich liegen bereits deutlich über dieser Marke. Wie die Abbildung zeigt, sind die Hausaufgaben für die Niederlanden, Österreich und Ungarn noch zu erledigen, damit deren Speicher bis vor dem Winter auch zu mindestens vier Fünftel gefüllt sind.

Erinnern wir uns an den letzten Winter: Der durchschnittliche Füllstand in Europa betrug am 1. November 2021 rund 77 Prozent, also in etwa so viel wie heute. Dieser sank über den Winter aber rasch und betrug Mitte März noch rund 25 Prozent. Wenn die Füllstände nun auch 2022 rund 80 Prozent betragen, dann sollte dies doch für den nächsten Winter ausreichen, oder etwa nicht?

Aus folgenden Gründen ist dahinter leider ein grosses Fragezeichen zu setzen:

Erstens decken die Gasspeicher nur einen Teil der Gesamtnachfrage im Winter. Nehmen wir das Beispiel Deutschland: In den Heizmonaten Januar bis März und Oktober bis Dezember wurden 2020/21 total 780 Terrawattstunden (TWh) Gas verbraucht. Insgesamt verbrennt Deutschland pro Jahr rund 1000 TWh Gas. Die Gasspeicher haben eine Kapazität von rund 230 TWh. Mit anderen Worten können die Gasspeicher in Deutschland lediglich rund 30 Prozent der Winternachfrage (oder 23 Prozent der Jahresnachfrage) abdecken. Der grosse Rest, also rund 70 Prozent, wird via Pipeline direkt zu den Verbrauchern geleitet. Ein grosser Teil dieses Pipelinegases stammte 2021 aus Russland, deckt doch Deutschland rund die Hälfte seines Gasbedarfs mit russischem Gas ab.

 

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Zweitens war der Winter 2021/22 relativ warm. Endkonsumenten mussten weniger heizen als in normalen Jahren. Wenn sich der nächste Winter auch nur durchschnittlich zeigt, wird die Nachfrage nach Energie bereits deutlich höher ausfallen. Bei einem sehr kalten Winter, vielleicht auch mit wenig Wind und wenig Sonne, wird sich die Lage zudem weiter akzentuieren.

Denn drittens ist auch die Situation am Strommarkt angespannt. Gas- und Strompreise entwickeln sich an den Märkten gewöhnlicherweise parallel – nicht zuletzt, weil viele Gaskraftwerke dafür eingesetzt werden, Spitzen bei der Stromnachfrage zu decken. Die Produktion von Strom mit Erdgas ist jedoch nur möglich, wenn genug Gas da ist. Besonders problematisch ist zudem: Im Jahr 2023 fallen weiterhin etliche französische AKW aus, die in Revision sind. Und per 1. Januar 2023 sollen die letzten deutschen AKW vom Netz gehen.

Mit anderen Worten: Die Versorgungssicherheit mit Gas und Strom ist im nächsten Winter in der Schweiz nicht gegeben, obwohl die Füllstände in den meisten europäischen Ländern das erklärte Ziel von 80 Prozent bereits erreicht haben. Es ist leider im Bereich des Möglichen, dass Energie knapp wird und Versorgungsengpässe auftreten. Die potenziellen Schäden von Unterbrüchen in der Gas- und Stromversorgung sind gigantisch. Es gilt also, sich auf eine solche Möglichkeit vorzubereiten, um die Schäden im Ernstfall so klein wie möglich halten zu können. Viele Unternehmen haben schon längst mit den Eventualplanungen begonnen. Der Bund hat nun erste Pflöcke eingeschlagen und konkrete Massnahmen für eine Gasmangellage vorgestellt. Die Wirtschaft beteiligt sich an der freiwilligen Sparkampagne des Bundes, die bis April 2023 dauern soll. Doch es bleibt noch viel zu tun.

Von vollen Gaslagern in Europa profitiert auch die Schweiz. Doch sich allein darauf zu verlassen, wäre naiv.