# 4 / 2021
08.03.2021

Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität: Position der Wirtschaft

Forderungen von economiesuisse

Die Schweiz hat im internationalen Vergleich eine tiefe gymnasiale Maturitätsquote. Der unschlagbare Vorteil dieser tiefen Quote ist der prüfungsfreie Zugang zu den universitären Hochschulen und den eidgenössischen technischen Hochschulen. Mit Ausnahme der Medizin kann sich eine Person nach bestandener Matura frei für eine Studienrichtung entscheiden und das Studium ohne Aufnahmeprüfung beginnen, unabhängig davon, welche Schwerpunkte sie zuvor im Gymnasium gewählt hat oder welcher Notendurchschnitt erzielt worden ist.

Damit der prüfungsfreie Zugang erhalten bleibt, darf die gymnasiale Matura keinesfalls an Qualität einbüssen. Daher ist ihre Weiterentwicklung dringend nötig. Aus Sicht der Wirtschaft gilt es dabei folgende Punkte zu beachten:

Vorbereitung auf das Berufsleben 

Die Gymnasien sollen die Maturandinnen und Maturanden optimal auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Dazu gehört nicht nur die Vermittlung der dafür notwendigen Kompetenzen im Unterricht, sondern auch eine angemessene Unterstützung bei der Wahl des richtigen Studiums bzw. des richtigen Berufs. Heute wird der Studien- und Berufswahlunterricht an vielen Gymnasien stiefmütterlich behandelt. Dieser sollte aber überall verbindlich Einzug halten. Dabei sollen die Tendenzen des technologischen Fortschritts im Auge behalten werden und es ist mit den Schülerinnen und Schülern zu thematisieren, welche Berufe voraussichtlich wichtiger bzw. weniger wichtig werden. 

  • Obligatorischer Studienwahlunterricht und Laufbahncoaching: Die Auseinandersetzung mit der Wahl des Studiums ist heute teilweise schlecht in den Schulalltag integriert. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich erst spät und oft unzureichend mit ihrer Studienwahl und deren Konsequenzen auf ihr zukünftiges Erwerbsleben. Ziel muss es sein, dass die Studienwahl bewusster erfolgt, es weniger Fachrichtungswechsel- und Studienabbrüche gibt und die Berufswahl weniger stereotyp erfolgt, sodass zum Beispiel mehr Frauen MINT-Studiengänge wählen. 

    Der obligatorische Studienwahlunterricht darf sich nicht auf das Vermitteln von Informationen zu den Studiengängen beschränken. Anstelle der Studienfächer müssen die möglichen Berufe im Zentrum stehen. Während der gesamten letzten drei Jahre des Gymnasiums soll ein bewusstes Laufbahncoaching erfolgen. In diesem sollen mögliche berufliche Laufbahnen und monetäre Konsequenzen der Studienwahl aufgezeigt werden. Im Coaching sollen auch die eigenen Stärken, Schwächen und Interessen thematisiert werden. Diese beiden Perspektiven helfen den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, eine Studienwahl zu treffen, die erstens ihren Neigungen und Talenten entspricht und zweitens eine zufriedenstellende Berufsperspektive bietet. Nicht alles muss aber neu erfunden werden. Die bestehende Studienberatung sollte in diesen Prozess gut eingebunden werden.

  • Obligatorischer Berufswahlunterricht im Langzeitgymnasium: In den ersten beiden Jahren des Langzeitgymnasiums (bei sechsjähriger gymnasialer Ausbildung ohne vorgängigen Besuch der Sekundarschule) sollte zusätzlich ein obligatorischer Berufswahlunterricht eingeführt werden. In der Sekundarschule spielt die Berufswahl eine wichtige Rolle, da die Kinder nach dem Abschluss mehrheitlich eine Lehrstelle antreten werden. Auch im Gymnasium sollten die unterschiedlichen Ausbildungslaufbahnen thematisiert werden, damit ein bewusster Übertritt ins Kurzzeitgymnasium bzw. ein Wechsel in eine Berufslehre erfolgen kann, falls sich dieser Weg für die betroffene Person besser eignet. 

 

Kompetenzen der Zukunft fördern 

Der Rahmenlehrplan und die kantonalen Lehrpläne sollten sich an Kompetenzen orientieren. An den Gymnasien müssen einerseits unverändert diejenigen Kompetenzen vermittelt werden, welche die Schülerinnen und Schüler benötigen, um an den Hochschulen erfolgreich ein Studium abzuschliessen. Es darf jedoch nicht zu einseitig auf die Kompetenzen für das Studium fokussiert werden. Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sollten auch in denjenigen Kompetenzen gefördert werden, die sie brauchen, um in der Zukunft in der Gesellschaft und im Berufsleben bestehen zu können. Daher braucht es folgende Anpassungen: 

  • Stärkerer Fokus auf die Kompetenzen für eine digitale Welt: Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, digitale Werkzeuge und Techniken richtig zu nutzen. Sie müssen einen bestimmten Sachverhalt in einem Modell abstrahiert darstellen können, um ihn danach mithilfe von Algorithmen und Daten abzubilden («computational thinking»). Diese Fähigkeit ist entscheidend, um die Funktionsweise von Computern und digitalisierten Prozessen zu verstehen. Ebenso müssen alle Maturandinnen und Maturanden programmieren können. Ihre diesbezüglichen Kompetenzen müssen besser sein als jene von Absolventen der Sekundarschule. Auf der Sekundarstufe I wird gemäss Lehrplan 21 beispielsweise gefordert, dass die Schülerinnen und Schüler «selbstentwickelte Algorithmen in Form von lauffähigen und korrekten Computerprogrammen mit Variablen und Unterprogrammen formulieren» können. Neben diesen technischen Fähigkeiten, die im Fach Informatik unterrichtet werden sollen, müssen auch die Informatikanwenderkompetenzen gefördert werden. Dies kann grundsätzlich in jedem Fach erfolgen. Es ist dabei aber auf eine sinnvolle Abstimmung zwischen den einzelnen Fachbereichen zu achten. 
  •  Mehr Gewicht für MINT-Fächer: Die Digitalisierung führt zu Verschiebungen im Arbeitsmarkt. Klassische Jobs wie beispielsweise kaufmännische Berufe oder Notare werden an Bedeutung verlieren – technisch orientierte Berufe werden an Bedeutung gewinnen. Ingenieurinnen und IT-Spezialisten sind bereits heute auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt. Das World Economic Forum (WEF) nennt beispielsweise Datenanalysten, «AI and Machine Learning Specialists», Big Data-Spezialisten, Spezialisten im digitalen Marketing, Prozessautomatisierungsspezialisten usw. als Berufe, die am stärksten an Bedeutung gewinnen werden.. Dieser rasche Wandel in der Berufswelt ist auch im Gymnasium zu berücksichtigen. Deshalb müssen die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) einen höheren Anteil an der gesamten Unterrichtszeit erhalten. 
  • «Soft Skills» werden immer wichtiger: Gemäss einer aktuellen Umfrage des WEF (2020) werden neben den IT-Kompetenzen insbesondere die Fähigkeit, kritisch und innovativ zu denken, Problemlösungsfähigkeiten, Selbstmanagement und das Zusammenarbeiten mit anderen Personen an Bedeutung zunehmen. In anderem Zusammenhang wird oft auch von den 4K-Kompetenzen (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken) gesprochen. Wie auch immer diese Kompetenzen genannt werden: Es ist wichtig, dass Selbst- und Sozialkompetenzen (bzw. überfachliche Kompetenzen) prominent im Rahmenlehrplan verankert sind. Der Beitrag jedes einzelnen Fachs zu diesen Kompetenzen muss in den jeweiligen Fachlehrplänen berücksichtigt werden. 
  • Wissensanwendung stärker fördern: Wissen, das nicht angewendet werden kann, ist wertlos. Deshalb ist die Wissensanwendung im Unterricht stärker zu fördern. Auch die Prüfungen müssen vermehrt die Wissensanwendung benoten. Im Art. 5 des MAR, der die Bildungsziele definiert, soll die Anwendung des Wissens und der erlernten Fähigkeiten stärker betont werden. 

Mehr Pflicht

Im Gymnasium muss ein Grundstock an Kompetenzen vermittelt werden, über den alle Maturandinnen und Maturanden nach ihrem Abschluss uneingeschränkt verfügen. Dabei geht es einerseits um die basalen Fähigkeiten für die allgemeine Studierfähigkeit, andererseits um Kompetenzen in den Fächern Informatik und Wirtschaft und Recht. 

Höhere Gewichtung der basalen Fähigkeiten am Anfang der gymnasialen Ausbildung: Gemäss EVAMAR II sind die Fächer Erstsprache, Mathematik, Englisch und Informatik-Benutzerwissen am wichtigsten für die allgemeine Studierfähigkeit. Aber nicht alle Maturandinnen und Maturanden weisen eine lückenlose Studierfähigkeit auf: Rund 20 Prozent der Mathematiknoten und der Noten in der Zweitsprache sind ungenügend. Den basalen Fähigkeiten ist daher eine hohe Stellung beizumessen. Sie müssen in den ersten Jahren am Gymnasium sorgfältig unterrichtet werden. 

Kompensationsmöglichkeiten für Mathematik und Erstsprache einschränken: In der Mathematik und der Erstsprache sind keine Kompromisse zu machen. Diese Fächer sind für den Studienerfolg in vielen Fächern zentral. Solange eine Matura in allen Fachrichtungen zum Studium berechtigt, müssen alle, die sie absolvieren, Mindestanforderungen erfüllen. Deshalb sind die Kompensationsmöglichkeiten bei den Noten für die Fächer Mathematik und Erstsprache einzuschränken, indem hier negative Abweichungen beispielsweise doppelt zählen. 

Informatik als Grundlagenfach: Informatik muss an den Gymnasien einen höheren Stellenwert erhalten. Es muss ein Grundlagenfach werden und dementsprechend als Maturitätsfach benotet werden. Denn die Informatik ist aus fast keinem Beruf mehr wegzudenken und jede und jeder muss sie in den Grundzügen verstehen, wie das weiter oben bereits dargelegt wurde. Dieser Ausbau des Informatikunterrichts darf jedoch nicht auf Kosten anderer MINT- Fächer erfolgen. 

Stärkung des Fachs Wirtschaft und Recht: Das Fach Wirtschaft und Recht sollte ein Grundlagenfach werden, da es in allen Berufsfeldern und auch im Alltag nützlich ist, die Grundsätze der Wirtschaft und des Rechts zu kennen. Deshalb darf vor allem die Betriebswirtschaft (insbesondere allgemeine Buchhaltung und Unternehmensführung) nicht zu kurz kommen. In diesem Fach sollten auch Alltagskompetenzen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen (wie z. B. Steuererklärung, Bewerbungen schreiben) zur Sprache kommen.

Mehr Freiheiten und Interdisziplinarität am Ende der gymnasialen Ausbildung 

Im vorherigen Abschnitt wurde mehr Pflicht gefordert. Diese Pflicht soll vor allem in den ersten beiden der vier Jahre dauernden gymnasialen Ausbildung (bzw. in den ersten vier Jahren bei einer sechsjährigen Dauer) zum Tragen kommen, damit die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten über eine gute Basis verfügen. Darauf aufbauend sollen in den letzten beiden Jahren mehr Freiheiten erlaubt und insbesondere die Interdisziplinarität stärker gefördert werden. 

  • Interdisziplinäres Arbeiten stärker fördern: Interdisziplinäres Arbeiten wird in der heutigen Arbeitswelt immer wichtiger, insbesondere in der Forschung und Entwicklung. Interdisziplinarität sollte in den Gymnasien nicht nur in Form von Spezialveranstaltungen stattfinden, sondern als fixer Bestandteil des Stundenplans verankert werden. Dabei können auch die immer wichtiger werdenden überfachlichen Kompetenzen gefördert und es kann stark auf selbstorganisiertes Lernen (SOL) gesetzt werden. Der Rahmenlehrplan muss eine entsprechende Flexibilität zulassen, damit die Kantone und ihre Gymnasien moderne Unterrichtsformen anwenden können. 

    Interdisziplinarität basiert immer auch auf starken Kenntnissen der jeweiligen Disziplinen. Deshalb sollte die Interdisziplinarität erst in der zweiten Hälfte der gymnasialen Ausbildung im Rahmenlehrplan verankert werden, damit auf bereits gute basale Fähigkeiten zurückgegriffen werden kann. Dies hat zur Folge, dass am Ende des Gymnasiums weniger Fachunterricht stattfindet. Nichtsdestotrotz müssen die Schülerinnen und Schüler begleitet werden. Die Fachlehrpersonen braucht es daher auch in dieser Phase, allerdings in einer neuen Rolle. 

  • Spätere Wahl der Schwerpunkt- und Ergänzungsfächer: Schwerpunkt- und das Ergänzungsfach sollen von den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in den letzten beiden Jahren ihrer Ausbildung belegt werden. Heute müssen sie diese Fächer teilweise bereits vor dem Eintritt ins Gymnasium wählen – also zu einem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Fähigkeiten und Neigungen noch nicht ausreichend kennen und sich auch noch kaum Gedanken zur Studienwahl gemacht haben. 

    Die Wahl dieser Fächer sollte im drittletzten Jahr vor der Matura erfolgen und sie sollten während der letzten beiden Jahre belegt werden. An der Anzahl Unterrichtseinheiten dieser beiden Fächer muss nichts geändert werden. Sie sollen einfach dichter auf zwei Jahre aufgeteilt werden. Der Kanton Aargau hat mit dieser Regelung gute Erfahrungen gemacht. Dort hat es sich gezeigt, dass bei einer späteren Wahl deutlich häufiger ein Schwerpunktfach aus dem MINT-Bereich gewählt wird, insbesondere von den jungen Frauen.

Qualitätssicherung: vergleichbare Abschlüsse 


Die Gymnasien geniessen in der Schweiz viele Freiheiten. Indem weiterhin auf eine schweizweite Einheitsmatur verzichtet wird, werden sie auch in Zukunft über Autonomie verfügen. Um die allgemeine Studierfähigkeit und somit den prüfungsfreien Zugang zu den Hochschulen zu gewährleisten, braucht es jedoch schweizweit vergleichbare Abschlüsse, die gewissen Mindestanforderungen genügen. 

  • Vergleichbare Grundstrukturen in der gesamten Schweiz mit verbindlichen Zielen: Die Gymnasien sollten in der gesamten Schweiz über vergleichbare Grundstrukturen verfügen. Insbesondere müssen für das Bestehen der Matura verbindliche Ziele gelten, die zur Gewährleistung der allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Gesellschaftsreife von Maturandinnen und Maturanden zwingend erreicht werden müssen. Ebenso muss die Mindestdauer des Gymnasiums harmonisiert werden.  
  • Standardisierte Standortbestimmungen : Mithilfe von regelmässigen, standardisierten Standortbestimmungen (z. B. mittels sogenannten Lernnavigatoren) soll bei den Schülerinnen und Schülern der Stand der basalen Kompetenzen in allen Gymnasien verbindlich erfasst werden. So können diese gezielt gefördert werden, und die allgemeine Studierfähigkeit ist gewährleistet. Zudem ermöglichen sie den Schulen, die Qualität ihres Unterrichts besser zu steuern. Die Einführung einer schweizweiten Einheitsmatur macht hingegen keinen Sinn, da ansonsten in den Gymnasien ein «Teaching and learning to the test» stattfinden dürfte. 
  • Erfolgsquoten der Gymnasium-Abgänger an Hochschulen veröffentlichen: Die Studienerfolgsquote, das heisst der Anteil der Abgänger eines Gymnasiums, die später ein Hochschulstudium erfolgreich abschliessen, sollte veröffentlicht werden. Sie ist ein wichtiger Hinweis, wie gut ein Gymnasium in Bezug auf die allgemeine Studierfähigkeit ausbildet. Diese Information ist wichtig, um eine Diskussion über die Qualität der Gymnasien führen zu können, in vollem Bewusstsein, dass sie nur einer von vielen Qualitätsindikatoren ist.