Absage von Maturitätsprüfungen ist ein Armutszeugnis für die Schweiz

Die Kantone haben sich durchgesetzt. Sie wollen keine einheitliche Lösung bei der Matura. Jeder Kanton soll selbst darüber bestimmen, ob eine Maturitätsprüfung stattfinden soll oder nicht. Die Berufsmaturitätsprüfung wird sogar ganz abgesagt. Das ist ein Armutszeugnis für das Schweizer Bildungssystem, denn den Schülerinnen und Schülern wird so eine prägende Erfahrung vorenthalten.

Obligatorische Schulen dürfen öffnen, der Restaurantbesuch wird ermöglicht, alle Läden öffnen wieder ihre Tore. Überall sollen geeignete Schutzkonzepte garantieren, dass der Schutz der Gesundheit sichergestellt wird. Wieso sollte man nicht auch für Maturitätsprüfungen eine Lösung finden? Wie Kantone zeigen, welche die Prüfungen durchführen wollen, geht das mit ein bisschen gutem Willen. Doch es geht gar nicht darum, es geht um einen veritablen Ideologiestreit. Die «Absagekantone» springen einer Ideologie nach, welche Prüfungen sowieso abschaffen will. Die «Durchführkantone» hingegen sind überzeugt, dass Prüfungen für die Qualität der Ausbildung wichtig sind und deswegen eine Lösung gefunden werden muss. Ich gehöre der letzteren «Glaubensrichtung» an. Aus guten Gründen: 

Die Maturaprüfung ist eine Reifeprüfung. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich auf eine Extremsituation vorbereiten. Viele müssen zum ersten Mal in ihrem Leben ein wirklich grosses Examen bestehen. Bei vielen Prüfungen während des Gymnasiums reicht es aus, Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu speichern; kleine Häppchen, oft erst am Tag vor der Prüfung verinnerlicht. Doch bei der Matura geht das nicht mehr. Es ist zu viel Wissen gleichzeitig abzurufen, der Kurzzeitspeicher reicht dafür nicht aus. Daher ist Selbstmanagement gefragt: Wo habe ich die grössten Lücken, in welchem Fach muss ich einen speziellen Effort leisten, was kann ich auch ohne grosse Vorbereitung? Das in der Vorbereitungsphase Erlernte ist also ein wesentlicher Teil der Reifeprüfung. Nun müssen Fähigkeiten unter Beweis gestellt werden, die zwingende Voraussetzung dafür sind, dass man später auch an einer Hochschule bestehen kann. 

Die Bildungspolitik nimmt nun vielen aus dem «Corona-Jahrgang» diese prägende Erfahrung.

Damit verbunden ist eine Maturaprüfung auch ein einschneidendes Erlebnis. Viele blicken ein paar Jahre später mit Stolz und Wehmut auf diese Zeit zurück. Der Prüfungserfolg schafft auch Selbstvertrauen, weitere Herausforderungen im Leben anzupacken. Die Bildungspolitik nimmt nun vielen aus dem «Corona-Jahrgang» diese prägende Erfahrung. 

Auch aufgrund der Chancengerechtigkeit sind die Prüfungen durchzuführen. Wenn ein Schüler in den Vornoten ungenügend ist, muss er eine Chance erhalten, durch einen gelungenen Endspurt die Matura doch noch zu erlangen. Für andere ist es eine lehrreiche Erfahrung, wenn sie trotz toller Vornoten am Tag X plötzlich doch noch unter Druck kommen und merken, dass sie damit umgehen können.

Wenn Maturitätsprüfungen abgesagt werden, wird die Corona-Krise letztlich dafür missbraucht, Anliegen einer verfehlten Pädagogik zum Durchbruch zu verhelfen. Hoffen wir, dass die meisten Kantone dennoch an den Maturaprüfungen festhalten und ihren Schülerinnen und Schülern diese wertvolle Erfahrung ermöglichen.