# 11 / 2018
10.12.2018

Neues Waffenrecht: Es steht mehr auf dem Spiel, als auf den ersten Blick ersichtlich

Vom Schengen-Abkommen profitiert die gesamte Schweizer Volkswirtschaft

Wie stark würden die Einkommen der Schweizer sinken, wenn die Schengen-Assoziierung und das Dublin-Übereinkommen ausser Kraft treten? Diese Frage haben sich Ökonomen des unabhängigen Beratungs- und Forschungsbüros Ecoplan in einer Studie gestellt, die sie für den Bund erarbeitet haben. Darin kommen sie zum Schluss, dass das Schweizer Bruttoinlandprodukt (BIP) ohne Schengen-Mitgliedschaft im Jahr 2030 bis zu 3,7 Prozent geringer wäre, dass die jährlichen Pro-Kopf-Einkommen um bis zu 1600 Franken zurückgehen und dass die Exporte um bis zu 5,6 Prozent tiefer ausfallen könnten. Zum Vergleich: Im ersten Jahr nach Aufhebung des Mindestkurses gingen die Schweizer Exporte um 2.6 Prozent zurück. Es ist somit unbestritten, dass die Schweizer Volkswirtschaft von der Schengen-Assoziierung und dem Dublin-Abkommen profitiert.

Wie stark sich ein Wegfall der Abkommen tatsächlich auf das BIP, das Pro-Kopf-Einkommen und auf die Exporte auswirkt, hängt wesentlich von der konkreten Umsetzung respektive dem Verhalten anderer Schengen-Staaten ab. Die Forscher gehen von drei primären Effekten aus, die in den nachfolgenden Kapiteln näher erläutert werden: Ohne Schengen würden erstens an den Schweizer Grenzen wieder systematische Kontrollen eingeführt werden und zweitens müsste unser Land wieder eigene Visa erteilen. Ohne Dublin käme es drittens wieder zu mehr Asylgesuchen beziehungsweise könnte die Schweiz Zweitgesuchsteller nicht mehr in andere Schengen-Staaten überstellen. Nun kann man verschiedene Szenarien aufstellen, wie stark diese Effekte ausfallen. Auf diese geht das Folgekapitel ein. Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden, dass die Forscher für ihre Schätzungen nicht alle möglichen Effekte berücksichtigt haben. Wie weiter unten aufgezeigt wird, ermöglicht das Schengen-Übereinkommen den Schweizer Strafverfolgungsbehörden, auf das Schengener Informationssystem und somit auf die europaweite Fahndungsdatenbank zuzugreifen. Das erhöht die Sicherheit, was allerdings nicht in die Modelle über die volkswirtschaftlichen Folgen eingeflossen ist. Somit lässt sich vermuten, dass die Wirtschaft in Wirklichkeit stärker von den Abkommen profitiert, als dass die Zahlen belegen.

Die Tourismusregionen brauchen Schengen

Seit die Schweiz bei Schengen dabei ist, müssen Touristen aus Staaten ausserhalb der EU kein zusätzliches Visum mehr lösen, wenn sie neben Berlin, Paris und Mailand auch noch Zürich oder Luzern bereisen wollen. Das wirkt sich auf die Anzahl Logiernächte aus (siehe Grafik 2): Chinesische, indische und arabische Touristen übernachten seither öfter in der Schweiz.

Grafik 2

Seit dem Schengen-Beitritt der Schweiz profitiert die hiesige Tourismusbranche von mehr Touristen aus China, Indien und Arabien.

Zudem zeigt sich, dass Reisende aus China, Indien und arabischen Ländern während ihres Aufenthalts in der Schweiz viel Geld ausgeben – zum Beispiel, wenn sie in Restaurants essen, Uhren kaufen oder Museen besuchen. Insgesamt geben sie pro Tag zwischen 310 und 420 Franken aus. Das ergibt eine jährliche Bruttowertschöpfung von 1,1 Milliarden Franken. Die Bedeutung dieser Summe für den Tourismus und damit die Schweizer Volkswirtschaft lässt sich folgendermassen verdeutlichen: Die drei erwähnten Touristengruppen steuern knapp sechs Prozent zur gesamten Wertschöpfung der Tourismusindustrie bei. Diese beschäftigt über 175'000 Menschen in allen Regionen der Schweiz.

Ohne die erleichterten Schengen-Visabestimmungen muss mit einem Rückgang von Touristen aus diesen Ländern gerechnet werden. Je nachdem, wie die Schweiz künftig ihre Visa mit jenen der Schengen-Staaten koordinieren kann, werden der hiesigen Tourismusbranche laut Ecoplan jährlich zwischen 200 und 530 Millionen Franken entgehen.

Schweizer Wirtschaft braucht stabile Beziehungen zu Europa

Die Schweizer Wirtschaft lebt vom Aussenhandel: Zwei von fünf Franken verdienen die Schweizer im Handel mit dem Ausland. Und über die Hälfte unserer Dienstleistungen und Waren gehen in die EU, die somit unsere wichtigste Handelspartnerin ist. Deshalb ist die Schweizer Wirtschaft auf stabile Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz angewiesen. Das Referendum gegen das Waffenrecht ist ein Angriff auf die Schengen-Mitgliedschaft der Schweiz. Wie die Selbstbestimmungsinitiative oder die Kündigungsinitiative stellt dieses Referendum die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf die Probe und schadet der Planungssicherheit. Dadurch leidet der Wirtschaftsstandort und Investitionen werden gehemmt.

Ohne Schengen drohen Staus an den Grenzen und Warteschlangen an Flughäfen

Dank Schengen gibt es heute an den Schweizer Grenzen keine systematischen Kontrollen mehr. Davon profitieren all diejenigen Menschen in den fast 1.2 Millionen Fahrzeugen, welche die Schweizer Grenze täglich überqueren. Tritt die Schweiz aus dem Schengen-Raum aus, wird ihre Grenze zur Aussengrenze. Grundsätzlich sind die Schengenmitglieder verpflichtet, diese zu kontrollieren. Es ist aber schwierig vorherzusagen, wie französische, österreichische und italienische Beamte künftig Fahrzeuge an den Grenzen überprüfen würden. Um die Auswirkungen solcher Massnahmen aufzuzeigen, lohnt sich der Blick in die Vergangenheit: 2004 haben deutsche Grenzbeamte systematische Kontrollen von Fahrzeugen eingeführt. Der Ausnahmezustand in Kreuzlingen war daraufhin so gross, dass die Kantonspolizei Thurgau eine Medienmitteilung verschicken musste. Der Verkehr brach kurzerhand zusammen. Die Autos stauten sich am Zoll und die Leute wurden mit langen Wartezeiten konfrontiert. Wie lange die Grenzüberquerer im Falle eines Wegfalls von Schengen effektiv warten müssten, hängt davon ab, wie viele zusätzliche Grenzbeamte die Nachbarstaaten anstellen, wie viele Grenzübergänge sie schliessen und wie stark sie in den Ausbau von solchen investieren würden. Wenn die Schweizer Nachbarstaaten viel in den Ausbau ihrer Grenzkontrollen investieren, indem sie zum Beispiel Strassen mit zusätzlichen Spuren verbreitern, entstehen bei einem Schengen-Austritt Wartekosten von 1.5 Milliarden Franken pro Jahr. Den grössten Teil davon müssten Grenzgänger tragen, aber auch für die übrigen Schweizer Grenzüberquerer fielen Kosten in Höhe von 118 Millionen Franken pro Jahr an. Wenn allerdings die Nachbarstaaten nicht bereit sind, stark in die Infrastruktur an den Grenzen zu investieren, können die Wartekosten bis auf 3,2 Milliarden Franken steigen. Das würde die Wettbewerbsfähigkeit der exportierenden und importierenden Unternehmen massiv verringern.

Ohne Schengen müssten die Schweizer aber nicht nur länger an den Landesgrenzen warten, sondern auch am Flughafen in Kloten. Denn bei einem Austritt müsste der Flughafen Zürich seine Terminals wieder vereinheitlichen, da diese zurzeit in einen Schengen- und Nicht-Schengen-Bereich aufgeteilt sind. Somit müssten Reisende zum Beispiel auch bei Flügen nach Berlin wieder ihren Pass zeigen und an einem entsprechenden Schalter anstehen - und dann am Flughafen Berlin Tegel noch mehr Zeit verlieren, weil sie sich nicht mehr in der Schlange für EU-Bürger einreihen dürfen. Zudem müsste der Flughafen Zürich zwischen 65 bis 125 Millionen Franken investieren respektive auch abschreiben.

Ohne Schengen verliert auch der Schweizer Forschungs- und Wissenschaftsstandort an Attraktivität

Die Schengen-Visa haben sich nicht nur positiv auf den Schweizer Tourismus ausgewirkt. Es erleichtert auch das Reisen für ausländische Geschäftsleute, was wiederum zu mehr Aufträgen für Schweizer Unternehmen führt. Dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einfacher reisen können, steigert die Attraktivität des Schweizer Forschungs- und Wissenschaftsstandort. Mit einem Schengen-Visa kann beispielsweise eine russische Professorin der ETH Zürich ohne bürokratische Umstände für zwei Tage nach Berlin an eine Konferenz fliegen. Gleichzeitig kann eine indische Forschergruppe, die in Paris an einem Projekt arbeitet, eine Fachtagung in Genf besuchen – ohne dass sie das Schweizer Konsulat in Frankreich aufsuchen und ein Visum beantragen muss.

Reisefreiheit stärkt internationales Genf

Es begann mit der Gründung des Roten Kreuzes im Jahr 1863, dass Genf sich zur weltweit wohl begehrtesten Gastgeberin für internationale Organisationen und Anlässe entwickeln konnte. Genf steht für Diplomatie, globales Engagement und multilaterale Zusammenarbeit. Genf ist aber nicht die einzige Stadt, die um solche Organisationen und Anlässe buhlt. Wien oder Kopenhagen sind namhafte Mitbewerber aus dem Schengen-Raum. Deshalb ist Genf besonders darauf angewiesen, dass die Schweiz Teil des Schengen-Raums bleibt und das Schengen-Visa beibehält. Ansonsten würde es zum Beispiel für afrikanische Konferenzteilnehmende umständlicher, nach Genf zu reisen. Denn ohne das Abkommen würden wohl auch die sogenannten Vertretungsvereinbarungen erlöschen. Dank diesen können Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten in das Konsulat eines beliebigen Schengen-Landes in ihrer Nähe, um ein Visum für die Schweiz zu beantragen. Die Konsulate liegen teilweise weit auseinander. Ohne Schengen müssten sie zwingend für ihre Reise nach Genf ins Schweizer Konsulat.

Schengen hat der Schweiz mehr Sicherheit gebracht

Der Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum hat auch die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit verbessert. Die Schengen-Staaten haben eine europaweite elektronische Fahndungsdatenbank aufgebaut. Das Schengener Informationssystem (SIS II) ist mittlerweile ein zentrales Instrument für die tägliche Fahndungsarbeit der Sicherheitsbehörden und der Schweizer Polizei. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. 2017 gab es gemäss dem Bundesamt für Polizei fedpol insgesamt mehr als 17’000 Fahndungstreffer. Pro Tag erhalten unsere Strafverfolgungsbehörden fast 50 Hinweise auf potenziell gefährliche Personen. Heute kann es nicht mehr vorkommen, dass die Schweiz einem international gesuchten Verbrecher die Aufenthaltsbewilligung verlängert, weil sie keinen Zugang zur europäischen Verbrecherdatenbank hat. Um dieses Niveau an Sicherheit auch ohne Schengen-Mitgliedschaft zu gewährleisten, müsste die Schweiz laut einer Studie des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) pro Jahr zusätzliche 500 Millionen Franken aufwenden.

Grafik 3

Der Schweizer Zugriff auf die Schengener Fahndungsdatenbank (SIS II) hat die grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung verbessert.

Die Zusammenarbeit zwischen den Staaten wird weiter durch ein zweites System, das Visa-Informationssystem (VIS) unterstützt. Verweigert die Schweiz einer Person die Einreise, so wird das im Schengener Informationssystem (SIS) vermerkt und die Sperre gilt für alle Schengen-Staaten. Illegale Einreise und Aufenthalt in der Schweiz werden damit schon ausserhalb der Schweiz erschwert. Ist die Schweiz nicht mehr Schengen-Mitglied, haben die Sicherheitsbehörden auch keinen Zugriff mehr auf diese Datenbanken, wodurch sich der für die Wirtschaft wichtige Standortfaktor Sicherheit verringern dürfte.

Mit dem Dublin-Übereinkommen spart die Schweiz jährlich Kosten in Millionenhöhe

Mit der Schengen- würde auch die Dublin-Assoziierung wegfallen, da beide Verträge miteinander verknüpft sind. Die Schweiz könnte Asylsuchende, für deren Prüfung des Asylgesuchs sie gemäss Dublin-Abkommen nicht zuständig ist, nur noch beschränkt in den zuständigen Dublin-Staat überstellen. Folglich müsste sie alle Gesuche umfassend prüfen. Seit Dublin für die Schweiz in Kraft ist, hat die Schweiz 29'751 Personen an andere Länder überstellen können. Dem gegenüber stehen mit 6'408 sehr viel weniger Personen, die die Schweiz übernommen hat. Somit hat sie zwischen 2009 und 2016 2 Milliarden Franken eingespart. Diese Zahl berücksichtigt aber nicht die zusätzlichen Kosten, die der Schweiz aufgrund zusätzlicher Zweitgesuche entstünden. Wie stark in der Schweiz die Zunahme solcher ohne Dublin wäre, ist schwierig vorherzusagen. Die Experten von Ecoplan haben hierfür folgenden Anhaltspunkt genommen: Zwischen 2012 und 2015 haben die EU-Staaten durchschnittlich pro Jahr 225'000 Asylgesuche abgelehnt - 145'000 davon fallen alleine auf unsere Nachbarn Österreich, Deutschland und Italien. Es ist klar, dass nicht alle von diesen 145'000 Personen ohne Dublin auch noch ein Gesuch in der Schweiz stellen würden. Aber wenn nur schon 1 Prozent davon es macht, hätte die Schweiz zusätzliche Kosten von 109 Millionen Franken pro Jahr zu tragen. Sind es hingegen 10 Prozent, müsste der Bund 1.09 Milliarden Franken mehr pro Jahr ausgeben.

Grafik 4

Mit der Schengen- würde auch die Dublin-Assoziierung wegfallen. Dieses hat sich aber bewährt.