# 5 / 2016
10.06.2016

Naturwissenschaft und Technik: für die Schweiz ein Muss

Mensch und Technik: ein kompliziertes Verhältnis

Vom Faustkeil zum «Maschinensturm»

Das Streben nach Verbesserung seiner Lebensumstände durch den Einsatz von Technik begleitet den Menschen, seit er vor etwa 2,6 Millionen Jahren die ersten Werkzeuge hergestellt hat. Viele der grossen Entwicklungssprünge unserer Zivilisation lassen sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse und neue technische Errungenschaften zurückführen: Viehzucht, Ackerbau, Architektur, das Rad, die Schrift, Bewässerungstechnik, die Schifffahrt – ohne sie wären die antiken Hochkulturen undenkbar. Zwar wurde dieser Vorwärtsdrang über die Jahrtausende immer mal wieder gebremst, insbesondere durch religiöse Verbote. Doch grundsätzlich blieb das Verhältnis vieler Menschen zur Technik bis ins Zeitalter der Industrialisierung geprägt von der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Ein erster Rückschlag kam mit der Ausbreitung von rauchenden Fabrikschloten und der «Fliessbandarbeit» im frühen 19. Jahrhundert. Es ist kein Zufall, dass die frühe Industrialisierung und das Zeitalter der Romantik zeitlich zusammenfallen. Es wurde ein Gegensatz geschaffen zwischen einer vermeintlich ursprünglichen Natur und der zerstörerischen Technologie des Menschen. Goethe brachte in Wilhelm Meisters Wanderjahre1821 zu Papier, was wohl viele seiner Zeitgenossen beschäftigte: «Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter (…).» Die Angst vor der existenzbedrohenden Technik konnte auch in Gewalt umschlagen, wie der «Maschinensturm» in diversen europäischen Ländern zeigte. In der Schweiz zerstörten Heimarbeiter aus dem Zürcher Oberland 1832 die Mechanische Spinnerei und Weberei Corrodi & Pfister in Oberuster. 

Fortschrittseuphorie und Technologiefeindlichkeit

Gegen die Jahrhundertwende hin änderte sich die Stimmung radikal. Weite Kreise der europäischen Bevölkerung wurden von einer Technikeuphorie erfasst. Man bejubelte die immer schnelleren Eisbahnen, die ersten Automobile, die Erschliessung der Alpen durch kühne Bergbahnen und die grossen Ozeandampfer. Diese Aufbruchstimmung erhielt einen ersten Knick, als 1912 die Titanic einen Eisberg rammte. Mit ihr versank ein Schiff, das wie kein anderes den Triumph des Maschinenzeitalters symbolisiert hatte. Noch viel einschneidender aber waren die traumatischen Ereignisse der beiden Weltkriege, als technische Errungenschaften erstmals zur millionenfachen Vernichtung von Menschenleben eingesetzt wurden. Die vor allem von europäischen Autoren geäusserte Technologiekritik der Nachkriegszeit steht denn auch in scharfem Kontrast zum Tempo, mit denen sich neue Erfindungen wie Kühlschränke oder das Fernsehen in den 1950er-Jahren ausbreiteten. 

Verschwunden ist die Fortschrittsskepsis seither nie ganz. Dem Siegeszug von Computern und Smartphones zum Trotz wurde sie immer wieder aufs Neue befeuert – beispielsweise durch die Katastrophe von Tschernobyl (1986). Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen heute in einem ausgesprochen ambivalenten Verhältnis zu Naturwissenschaft und Technik leben: Fasziniert von der neusten Entdeckung im Weltraum oder den Möglichkeiten des aktuellsten Tablet-Computers, und gleichzeitig unsicher, welche Auswirkungen Gentechnik, künstliche Intelligenz oder Nanotechnologie auf uns haben. 

Sich selbst auf diesen Wissensgebieten zu profilieren, scheint für junge Menschen heute weniger naheliegend zu sein als in früheren Generationen. Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die Digitalisierung und Automatisierung Gesellschaft und Arbeitswelt fundamental verändern. Einer der Gründe ist, wie die internationale Rose-Studie («The Relevance of Science Education»)  belegte, der zunehmende Wohlstand: Ist eine Gesellschaft materiell abgesichert, sinkt die Bereitschaft, tendenziell anstrengende Ausbildungswege auf sich zu nehmen. Das spiegelt sich auch in der vergleichsweise niedrigen Popularität von MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) in der Schule.

Mangelnder Nachwuchs für MINT-Berufe

Für eine Volkswirtschaft wie die Schweiz, deren Erfolg zu grossen Teilen auf Innovation und technischem Fortschritt gründet, ist diese Skepsis oder Gleichgültigkeit gegenüber MINT höchst problematisch. Seit längerer Zeit besteht in nahezu allen technischen Berufen ein Mangel an Arbeitskräften – der im Inland ausgebildete Nachwuchs reicht bei Weitem nicht aus, um die grosse Nachfrage abzudecken. Im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie wird das Phänomen seit einigen Jahren systematisch untersucht. Die Zahl der Berufstätigen in diesem Feld ist in den letzten 25 Jahren viermal so schnell gewachsen wie die Zahl aller Beschäftigten in der Schweiz. Gemäss jüngsten Schätzungen werden für ICT-Stellen bis 2022 über 80’000 Fachkräfte benötigt, insbesondere Software-Entwickler. Zwar konnte die Zahl der entsprechenden Bildungsabschlüsse zuletzt gesteigert werden. Doch das reicht nicht einmal annähernd, um die Lücke zu schliessen, die sich bei einer politisch gewollten Zuwanderungsbeschränkung öffnen wird. Bis 2022 muss mit einem Mangel von 30’000 Berufsleuten im Bereich ICT gerechnet werden. Eine exakte Abschätzung für den gesamten MINT-Bereich ist schwierig. Doch mit welchen Indikatoren man auch misst: Die Indizien weisen eindeutig darauf hin, dass sich das Problem laufend verschärft. Bereits 2011 hat der Bundesrat deshalb eine Fachkräfteinitiative lanciert.  

Eine 2014 im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) erstellte Studie kommt zu deutlichen Ergebnissen für drei dem MINT-Bereich zugeordnete Berufsgruppen (der Bereich Naturwissenschaften wurde nicht als separate Berufsgruppe ausgewiesen).

Tabelle 1

Insbesondere beim Anteil der Frauen in klassischen MINT-Berufen liegt noch grosses Potenzial.

Fachkräftemangel in MINT-Berufsfeldern

Quelle: B, S, S. Volkswirtschaftliche Beratung: Fachkräftemangel in der Schweiz – Ein Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage in verschiedenen Berufsfeldern. Basel, 2014.

Diese Darstellung verdeutlicht einerseits, dass es in allen drei Sparten ein gravierendes Nachwuchsproblem gibt. Andererseits zeigt sie auch auf, wo noch grosses Potenzial brachliegt: bei den Frauen. Ein Blick in die Bildungsstatistik zeigt, dass sich daran so rasch nichts ändern wird. Zwar hat der Frauenanteil in den MINT-Fächern von universitären Hochschulen und Fachhochschulen von 2002 bis 2010 von 24 auf 30 Prozent zugenommen, stagniert seither aber auf diesem Niveau. Dieser «Gendergraben» ist allerdings nicht in Stein gemeisselt. So sind die Frauenanteile in den MINT-Fächern etwa in Italien oder Frankreich deutlich höher als in der Schweiz. Es kann also etwas dagegen unternommen werden.

Technik: eine Männerdomäne?

Die Gründe für die mangelnde Präsenz weiblicher Fachkräfte in technischen Berufen sind vielfältig. Die meisten Handwerksberufe sind in westlichen Ländern seit Jahrhunderten hauptsächlich von Männern ausgeübt worden. Entsprechend galten auch das Ingenieurwesen und der technische Fortschritt (mit seiner häufigen Nähe zur Rüstungsindustrie) in der breiten Öffentlichkeit bis vor Kurzem als klassische Männerdomäne. Die Identifikationsfiguren aus diesen Bereichen sind fast ausnahmslos männlich. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen waren für den Zugang von Frauen zu MINT-Ausbildungen und -Berufen nicht förderlich und wirken bis heute nach.

Eindrücklich zeigte sich dies bei der breit angelegten Befragung für den «MINT-Nachwuchsbarometer» im Sommer 2012.  64 Prozent der Schüler, aber nur 40 Prozent der Schülerinnen gaben an, in ihrem Interesse an Technik innerhalb der Familie gefördert worden zu sein. Als Vorbilder in diesem Bereich wurden durchgehend die Väter und Grossväter genannt. Besonders kam der Geschlechterunterschied bei der Einschätzung der eigenen technischen Fähigkeiten zum Vorschein.

Ins Bild passt auch die Beliebtheit der MINT-Fächer an den Gymnasien. Bei den Knaben finden sich insbesondere Physik und Naturwissenschaften in den vorderen Rängen. Bei den Mädchen hingegen landet die Physik abgeschlagen auf dem letzten Platz. Nur geringe Unterschiede gibt es bei der Einschätzung des Fachs Mathematik: Es ist im Durchschnitt bei beiden Geschlechtern gleichermassen unbeliebt. An dieser Einstufung hat sich in den letzten 30 Jahren kaum etwas geändert, und sie spiegelt sich auch in den Leistungen: In keinem Fach gibt es so viele ungenügende Noten wie in der Mathematik.

Grafik 1

Selbstkonzept Schweizer Schülerinnen und Schüler

7. bis 9. Schuljahr, in Bezug auf Technik, 2012