# 7 / 2021
04.06.2021

Die Pandemie als Chance: ein Katalysator für Innovation in Unternehmen

Die Pandemie als Veränderungsprozess verstehen

Im Frühjahr 2020 erreichte die Corona-Pandemie die Schweiz und stellte Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor die grösste Herausforderung seit Jahrzehnten. Am 31. März setzte der Bundesrat eine wissenschaftliche Taskforce ein, um eine geeignete Strategie zum Umgang mit diesem weltweiten Phänomen zu finden. Ziel war es, das Covid-19-Virus möglichst rasch verstehen und bekämpfen zu können. Die in der Folge getroffenen Massnahmen waren völlig neu: Noch nie in Friedenszeiten hatten die Schweiz und andere westliche Staaten derart resolut in die Handels- und Gewerbefreiheit eingegriffen. Geschäftstätigkeiten wurden über Nacht verboten, die Reisefreiheit massiv eingeschränkt, Lieferketten temporär unterbrochen und das öffentliche Leben weitgehend stillgelegt.

Viele sehen Möglichkeiten in der Pandemie

economiesuisse hat diese erste Phase der Pandemie mir regelmässigen Umfragen zu den Auswirkungen auf die Unternehmen in unterschiedlichsten Branchen begleitet. Dabei wurde jeweils auch die Frage nach möglichen positiven Effekten der Pandemie gestellt. In den vier Umfragen von economiesuisse zwischen März und Juni 2020 erhielten wir insgesamt 418 von total 1031 Antworten, welche erwähnten, dass die Krise auch Positives hervorgebracht habe. Ein Teil der Chancen ergab sich durch die raschen Marktveränderungen. So konnten manche dieser Unternehmen wegen der Unterbrechung internationaler Lieferketten vorübergehend mehr Umsatz mit inländischen Produkten erzielen oder die Nachfrage nach gewissen Produkten wie Elektronik- oder Hygieneartikel stieg vorübergehend stark an. Dieses Ausnutzen von Opportunitäten ist der «courant normal» in einer Marktwirtschaft und sorgt dafür, dass die Versorgungsengpässe mit Gütern und Dienstleistungen rasch behoben werden.

Darüber hinaus gab es jedoch viele Antworten, die auf grundlegendere Veränderungen hindeuten. Oft als Chance genannt wurden der allgemeine Digitalisierungsschub und flexiblere Arbeitsformen und Arbeitsplatzmodelle. Bei manchen wurde dies begleitet von Effizienzsteigerungen oder einer verbesserten Kundenbindung. Auf Basis dieser Antworten wurden mit 45 Führungskräften aus der Schweizer Wirtschaft Einzelinterviews geführt, um noch besser zu verstehen, welche Chancen sie inmitten dieser Krise erkennen und nutzen konnten. «Chance» wurde dabei definiert als «Möglichkeit, ein Ziel zu erreichen». Die Interviews wurden von Felix Treibmann zwischen November 2020 und März 2021 in einer jeweils 30-minütigen Online-Sitzung durchgeführt.

Das Drei-Phasen-Modell von Kurt Lewin

Die Pandemie-Situation erforderte bei vielen einen Veränderungsprozess, der mit einem Change-Projekt viele Ähnlichkeiten aufweist. Als Erklärungsansatz bietet sich das bereits 1947 vom deutschen Sozialpsychologen Kurt Lewin entwickelte Drei-Phasen-Modell an. Dieses oft zitierte und später auch erweiterte Modell zerlegt Veränderungsprozesse in drei Etappen. In der 1. Phase werden bestehende Strukturen aufgebrochen beziehungsweise aufgetaut («unfreeze»). Idealerweise wird dieser Prozess bewusst gesteuert, erfolgt langsam und unter Einbezug aller betroffenen Gruppen. Phase 2 definiert sich durch ein Hinübergleiten in einen neuen Zustand («move»). Neue Lösungen werden ausprobiert, Erfahrungen gesammelt und die gewählten Ansätze optimiert. In der 3. Phase geht es schliesslich darum, die eingeleiteten positiven Veränderungen zu fixieren («freeze») und wieder in eine dauerhafte Struktur zu überführen. Das gelingt nur, wenn über die 2. Phase hinaus fortlaufend überprüft wird, ob neue Prozesse auch tatsächlich funktionieren und beibehalten werden.

Im Unterschied zu einem Change-Projekt, das aus dem Inneren eines Unternehmens entwickelt wird, wurde der Veränderungsprozess durch die Corona-Pandemie von aussen aufgezwungen. Zwei Besonderheiten sind dabei von erheblicher Bedeutung: Die Pandemie sorgte erstens dafür, dass der persönliche Austausch durch digitale Interaktion ersetzt werden musste. Zweitens schaffte dies auch freie Zeit in den Unternehmen, Fragestellungen anzupacken, die über das Alltagsgeschäft hinausgehen. Diese zwei Besonderheiten vereinfachten es den Unternehmen, den Veränderungsprozess während der Pandemie viel rascher als üblich voranzutreiben.

Digitalisierungsnotwendigkeit erleichtert den Veränderungsprozess

In den Interviews wurde häufig eine völlig neuartige Ausgangslage für Veränderungsprozesse erwähnt: Die Pandemiemassnahmen schränkten die physischen Interaktionen stark ein. Die behördlichen Empfehlungen, nach Möglichkeit zu Hause zu bleiben und von dort aus zu arbeiten, lösten einen starken Digitalisierungsschub aus. Aus der Distanz zu arbeiten musste fast über Nacht auch in sensiblen Tätigkeiten ermöglicht werden. Die radikale Einschränkung persönlicher Kontakte, von der sehr viele Personen gleichzeitig und in gleichem Ausmass betroffen waren, hat die Akzeptanz digitaler Interaktionsmöglichkeiten quasi erzwungen. Die in der allgemeinen Diskussion teilweise verteufelte Digitalisierung mutierte über Nacht zum Rettungsanker. Da dieser Veränderungsprozess in den Umfragen von economiesuisse sehr häufig genannt wurde, wurde er in den Interviews vertieft untersucht. Es zeigt sich, dass sich die Möglichkeiten längst nicht nur auf Videokonferenzen und neue Sharing-Plattformen beschränken, sondern dass die Digitalisierung die Arbeit in vielfältiger Hinsicht verändert (siehe Abbildung 2).

Den Antworten auf die Frage nach dem Wirkungsbereich von Digitalisierung ist eines gemeinsam: Persönliche Interaktion wird durch digitale Interaktion ersetzt. Die Antworten spiegelten dabei das jeweilige Arbeitsumfeld. Gesprächspartner aus bürozentrierten Bereichen erwähnten am häufigsten die Durchführung von Besprechungen per Videokonferenz und die Arbeit im Homeoffice. Vertreter operativer Bereiche nannten Verbesserungen in den Prozessen – zum Beispiel die elektronische anstelle einer physischen Übergabe von Informationen zwischen verschiedenen Schichten, zwischen Prozessschritten oder Arbeitsstationen, zwischen den Kunden und dem eigenen Vertrieb oder die stärkere Nutzung von E-Commerce.

Zeit für Strategie und Innovation als Chance für Veränderungsprozesse

Ein weiterer Grund erleichterte den Veränderungsprozess in Unternehmen: Weil physische Meetings, Kundenbesuche oder geschäftliche Reisen plötzlich nicht mehr möglich waren, hatten viele Führungskräfte und Know-how-Träger in den Unternehmen gleichzeitig freie Zeit in ihren Agenden. Es wurde dadurch möglich, relativ kurzfristig einen Austausch zu organisieren, um über das Alltagsgeschäft hinausgehende Fragen eingehend zu diskutieren. Gemäss den Interviews nutzten denn auch etliche Unternehmen diese Zeit, grundsätzliche Fragen zur Unternehmensstrategie zu stellen und vertieft zu bearbeiten. Die gewonnene Zeit wurde von Unternehmen auch dazu genutzt, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und die Innovation im Betrieb voranzutreiben.