# 3 / 2021
08.03.2021

Duale Berufsbildung stärken statt Gymnasium verwässern

Das Bildungssystem bietet bessere Stellhebel

Angesichts des Erfolgs der dualen Berufsbildung in der Schweiz verwundert die Forderung nach einer pauschalen Ausweitung der gymnasialen Maturitätsquote. Die im vorherigen Kapitel dargelegten Gefahren eines vereinfachten Zugangs zu Gymnasien lassen erhebliche Zweifel am gesellschaftlichen Nutzen aufkommen. Einerseits ist nicht zu erwarten, dass dadurch mehr Jugendliche gemäss ihren Fähigkeiten und Eignungen ausgebildet werden. Andererseits ist zu bezweifeln, dass mehr gefragte Fachkräfte ausgebildet würden. Denn sowohl der Weg über die Berufslehre als auch jener über die gymnasiale Maturität eröffnen die Möglichkeiten zur Hochqualifikation im tertiären Bereich, und es werden mehr Absolventen aus beiden Bereichen benötigt. Doch welche Stellhebel haben wir, die Jugendlichen optimal auf die Herausforderungen und den Arbeitsmarkt der Zukunft vorzubereiten?

Position der Berufslehre stärken

In einer Berufslehre sammelt man schon als Jugendlicher erste Erfahrungen im Wirtschaftsleben und hat noch vor dem 20. Lebensjahr einen Abschluss in der Tasche, der zur Teilnahme an zahlreichen weitergehenden tertiären Ausbildungslehrgängen befähigt. Innovation und beruflicher Erfolg sind keine Alleinstellungsmerkmale von Mittelschulabsolventen. Erfolgreiche Karrieren entstehen vielfach dann, wenn Personen früh mit der Berufswelt in Kontakt gekommen sind. Gute Ideen für neue oder verbesserte Produkte und Dienstleistungen, für optimierte Prozesse oder für innovative Distributionslösungen entstehen sehr oft im direkten Kontakt mit den Problemstellungen in der Praxis. Um weiterhin auf dem Erfolg unseres dualen Berufsbildungssystems aufzubauen, sind aus der Sicht der Wirtschaft folgende Massnahmen zielführend: 

  • Eltern in den Berufswahlunterricht einbeziehen: Die Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule setzen sich im ersten und zweiten Jahr intensiv mit der Berufswahl auseinander. Sie erfahren, welche Tätigkeiten die einzelnen Berufe mit sich bringen und bekommen Einblick in eine breite Palette von Tätigkeiten. Schliesslich müssen sie sich intensiv mit dem Angebot und mit ihren Kompetenzen und Wünschen auseinandersetzen. Sie erfahren dabei auch, welche Anschlussmöglichkeiten (Berufsmaturität, höhere Berufsbildung, Fachhochschulen) bestehen. Dieser Berufswahlunterricht muss für alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I obligatorisch sein, also auch für solche, die bereits nach der 6. Primarklasse an ein Langzeitgymnasium wechseln. Da oft die (Akademiker-)Eltern Druck ausüben, dass das Kind das Gymnasium besuchen soll, müssen sie ebenfalls in die Berufswahl eingebunden werden. Dies gilt gerade auch für ausländische Eltern, die mit unserem Bildungssystem weniger vertraut sind. Auch sie müssen sich damit auseinandersetzen, welche weiteren beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten den Eignungen, Kompetenzen und der Motivation ihres Kindes am besten entsprechen. 
  • Möglichkeiten für die berufsbegleitende Berufsmaturität (BM  I) schaffen: Die Berufsmaturität kann sowohl parallel zu einer beruflichen Grundbildung erworben werden (BM I) als auch in einer mindestens einjährigen Ausbildung nach deren Abschluss (BM II). Die Unternehmen sind aufgefordert, den Besuch der Maturitätsschule während der Berufslehre aktiv zu fördern und zu unterstützen. So kann am effektivsten sichergestellt werden, dass die Jugendlichen im Arbeitsprozess verbleiben und die Berufspraxis nicht für ein Jahr wieder ganz verlassen müssen. Der Weg über die BM I ist zudem schneller: Nach einer Lehre – welche maximal vier Jahre dauert – kann direkt ein Studium an einer Fachschule aufgenommen werden. 
  • Angebote der Fachmittelschulen abbauen: Die Fachmittelschulen (FMS) und Wirtschaftsmittelschulen (WMS) sind wie die gymnasialen Maturitätsschulen allgemeinbildende Schulen der Sekundarstufe II. Sie decken nach der obligatorischen Schule weiterhin einen hohen Anteil an Allgemeinbildung ab, bieten aber gleichzeitig eine berufsfeldbezogene Vertiefung an. Damit bereiten sie für bestimmte Berufsfelder auf eine Ausbildung an höheren Fachschulen oder auf ein Studium an pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen vor. Es ist deshalb zentral, dass die vollständig durch die öffentliche Hand finanzierten Fachmittelschulen die Berufslehre nicht schwächen – das Vertrauen in branchenübliche Bildungswege muss hoch bleiben. Aus diesem Grund sollten die Angebote im Bereich der Fachmittelschulen – mit Ausnahme bei direkten Zubringern wie Pädagogik oder soziale Arbeit – abgebaut werden.
  • Qualität und Durchlässigkeit ausbauen: Eine maximale Durchlässigkeit innerhalb unseres Systems ist Voraussetzung für reibungslose Bildungskarrieren. Nach der Lehre stehen viele hochstehende Tertiär-B-Ausbildungen wie höhere Fachschulen oder eidgenössische Abschlüsse zur Auswahl. Wer eine Berufsmatura während oder im Anschluss an die Lehre absolviert hat, kann zudem prüfungsfrei an eine Fachhochschule wechseln. Wer schliesslich nach einem Fachhochschulabschluss an die Universität möchte, kann dies in der Regel auch tun. Diese Durchlässigkeit muss zwingend erhalten bleiben. Dabei muss aber auch in der Berufsbildung die Qualität immer weiter verbessert und konstant überprüft werden. Ein Erstabschluss in der beruflichen Grundbildung muss die Arbeitsmarktfähigkeit sicherstellen und ein breites Tätigkeitsspektrum innerhalb des Berufsfeldes ermöglichen. Der Erstabschluss bildet die Basis für nachfolgende Spezialisierungen. 

Qualität an Gymnasien verbessern

Die Schweizer Matura soll auch weiterhin den prüfungsfreien Zugang zu einem Hochschulstudium ermöglichen. Zudem soll eine Matura auch die vertiefte gesellschaftliche Reife bescheinigen. Sie muss dazu befähigen, lösungsorientiert mit gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen, indem Jugendliche lernen, vernetzt zu denken und breites fachliches Wissen und Können anzuwenden. Damit diese Besonderheit unseres Bildungssystems aber erhalten werden kann, darf dieser Abschluss keinesfalls an Qualität einbüssen. Die Gymnasien sollen die Maturandinnen und Maturanden optimal auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Politische Bestrebungen, den Kantonen oder Schulen eine fixe Maturitätsquote vorzugeben, sind ebenso abzulehnen wie eine generelle Ausweitung der Quote. Die Matura muss wieder stärker zu einem Gütesiegel werden:

  • Professionelle Studienwahlvorbereitung einführen: Statt die Studierenden als Kunden zu umwerben, um möglichst viele anzuziehen, stehen die Hochschulen auch in der Mitverantwortung, dass die Studienwahl bewusst erfolgt. Angehende Studierende müssen wissen, worauf sie sich einlassen und welche Fachrichtungen ihren Fähigkeiten entsprechen. Die Gymnasien ihrerseits müssen ausreichend Raum während der Unterrichtszeit für diese Studieninformationen zur Verfügung stellen. Die Hochschulen stehen auch in der Pflicht, die Studierenden über die Berufsmöglichkeiten zu informieren. Gerade bei Modestudiengängen ist dezidiert darauf hinzuweisen, was viele Absolventinnen und Absolventen auf einem gesättigten Markt in ihrem Fachgebiet zu erwarten haben – und wo tatsächlich Fachkräfte benötigt werden.
  • Verbindliche Bildungsstandards definieren: Analog zur Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS-Konkordat) sollten auch für die Maturität verbindliche Bildungsstandards und vergleichbare Leistungsmessungen der Schulen eingeführt werden. Es braucht einen Konsens über den Kern der allgemeinen Studierfähigkeit. Dabei geht es nicht nur um eine grösstmögliche Verbindlichkeit gegenüber den Kantonen, sondern auch um eine klar formulierte Orientierungshilfe für alle Anspruchsgruppen. Hinsichtlich des Fachkräftemangels ist es besonders wichtig, bei den Grundlagenfächern Mathematik und Schulsprache keine Kompromisse einzugehen: Sie sind der Schlüssel für den Erwerb von neuem Fachwissen. Im Zeitalter der Digitalisierung müssen die MINT-Fächer zudem einen hohen Stellenwert einnehmen.
  • Verbindlicher Notenschnitt auch während des Langzeitgymnasiums: In vielen Kantonen schliesst das Gymnasium an die zweite oder dritte Sekundarklasse an und dauert vier Jahre. Mancherorts wird für die Aufnahme eine Aufnahmeprüfung und ein entsprechender Notenschnitt verlangt. Einige Kantone kennen zudem ein sogenanntes Langzeitgymnasium, das direkt an die Primarschule anschliesst, das Bestehen einer Aufnahmeprüfung voraussetzt und dementsprechend sechs Jahre dauert. Diese Schülerinnen und Schüler müssen sich bis zur Matura nicht mehr mit ihrer Berufswahl auseinandersetzen. Während für den Übertritt ins Kurzzeitgymnasium eine 4,5 in Erstsprache, Fremdsprache und Mathematik erreicht werden muss, besteht diese Hürde für einmal ins Langzeitgymnasium Eingetretene nicht mehr. Da ungenügende Noten zumindest teilweise kompensiert werden können, kann eine 4 in Deutsch, eine 3,5 in Englisch und eine 3,5 in Mathematik ausreichen, um weiter am Gymnasium bleiben zu können. Nach zwei Jahren Langzeitgymnasium sollten daher die gleichen Voraussetzungen wie für Sekundarschülerinnen und -schüler gelten: Die Noten im Langzeitgymnasium müssen mindestens den Übertrittskriterien von der Sekundarschule ans Kurzzeitgymnasium entsprechen. Das schafft mehr Fairness zwischen den beiden Typen und sorgt dafür, dass sich Eltern und Kinder während des Langzeitgymnasiums mit der Berufswahl auseinandersetzen. 
  • Transparenz erhöhen: Die Daten zum Studienerfolg von Maturandinnen und Maturanden einzelner Gymnasien an den Universitäten werden zwar vom Bundesamt für Statistik erfasst, aber nicht veröffentlicht. Die Kantone hätten zwar schon heute Zugriff auf die Daten, die meisten nutzen sie jedoch nicht. Das ist ein Problem. Denn Erfolgsquoten an den Universitäten geben einen objektiven Hinweis, ob das jeweilige Gymnasium sein primäres Ausbildungsziel, die Vorbereitung auf ein Hochschulstudium, erreicht. Es versteht sich von selbst, dass Vergleiche für einzelne Schulen unangenehm sein können, besonders wenn sie sich zuunterst auf der Liste wiederfinden. Doch der daraus entstehende Wettbewerb führt zu einer Verbesserung der Schulqualität, was längerfristig allen Beteiligten zugutekommt, gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel. Deshalb müssen die Erfolgsquoten der Studierenden an Universitäten für jedes einzelne Gymnasium veröffentlicht werden.

Weiterführende Aus- und Weiterbildungen miteinbeziehen

 

Die gymnasiale Laufbahn und die Berufslehre stellen beide Königswege für ein erfolgreiches Gesellschafts- und Berufsleben dar. Um unsere Jugendlichen mit dem Grundrüstzeug für den Arbeitsmarkt der Zukunft auszustatten, sind sowohl die Berufslehre als auch die Mittelschulen zentral. Sie stellen wichtige Aspekte der Grundausbildung sicher. Doch die darauf aufbauenden Aus- und Weiterbildungsangebote – insbesondere die Tertiärstufe – sind für die stetige Anpassung an den gesellschaftlichen und technologischen Wandel ebenso zentral. Dazu gehört neben den Universitäten und Fachhochschulen insbesondere die höhere Berufsbildung:
 

  • Ansehen der höheren Berufsbildung verbessern: Die höhere Berufsbildung ist eine schweizerische Eigenheit, und sie ist ein Erfolgsmodell. Die Qualität der Absolventinnen und Absolventen zeigt den Erfolg dieses Systems eindrücklich. Ein Grossteil der Kosten für die höhere Berufsbildung wird heute von Arbeitgebenden und Absolvierenden getragen. Zudem sind die Trägerschaften aus der Arbeitswelt auch für die Inhalte mitverantwortlich. Das verbessert die Ausrichtung auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse. Eine Stärkung des Ansehens der höheren Berufsbildung ist wichtig, sie darf insbesondere nicht durch die Hochschulbildung unterminiert werden
  • Differenzierung der Hochschulprofile erhalten: Ein akademischer Erstabschluss muss eine gute Basis bilden, relativ breit sein und ein geringes Mass an Spezialisierung aufweisen. Er stellt die Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit im System sicher. Die Spezialisierung sollte erst nach Abschluss einer Grundausbildung erfolgen, zum Beispiel mit einem Bachelor an einer Schweizer Universität. Dabei müssen die verschiedenen Eigenschaften von Universitäten und Fachhochschulen berücksichtigt werden. Während viele Universitäten in internationalen Vergleichen auf den vorderen Plätzen rangieren, haben auch die Fachhochschulen mit verstärktem Fokus auf die berufliche Praxis einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil. Da sich die beiden Hochschultypen heute schwergewichtig über das Zulassungsdiplom (gymnasiale Matura oder Berufsmaturität) unterscheiden, sollte die Profilierung also insbesondere dahingehend gestärkt werden. 
  • Lebenslanges Lernen fördern: Die sich wandelnden Anforderungen an Arbeitskräfte aller Qualifikationsstufen erfordern verstärkte Weiterbildungsanstrengungen während der gesamten beruflichen Laufbahn. Aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels muss das Arbeitskräftepotenzial der älteren Mitarbeitenden besser genutzt werden. Daher müssen Aus- und Weiterbildungen vermehrt auch in einem späteren Karriereabschnitt stattfinden. Aus- und Weiterbildungen werden in der Zukunft auch nicht mehr so trennscharf voneinander abzugrenzen sein. Erst durch Modularisierung und Flexibilisierung kann dem lebenslangen Lernen wirklich Rechnung getragen werden. Aus- und Weiterbildungsinstrumente müssen einen Werkzeugkasten darstellen, der je nach Bedarf eingesetzt werden kann. Und die Rahmenbedingungen müssen so ausgestaltet werden, dass verschiedene Branchen gemäss ihren Bedürfnissen massgeschneiderte Lösungen entwickeln können.