# 5 / 2016
10.06.2016

Naturwissenschaft und Technik: für die Schweiz ein Muss

Ansatzpunkte für die verstärkte MINT-Förderung

Grundlagen im Lehrplan 21

Trotz aller Bemühungen von Politik und Wirtschaft zur Stärkung der MINT-Ausbildung und beachtlichen Erfolgen bestehen nach wie vor grosse Ziellücken: Weder zeichnet sich ein klar wachsender Frauenanteil in den MINT-Studiengängen ab, noch besteht Aussicht, dass der MINT-Fachkräftemangel durch steigende Ausbildungszahlen wirklich gemildert werden kann. Was sollte daher getan werden, um die MINT-Förderung weiter zu stärken?

Gerade im Hinblick auf die MINT-Themen bietet die aktuelle Lehrplan-Reform grosse Chancen, die es zu nutzen gilt. Der Lehrplan 21, der erste gemeinsame Lehrplan für die Volksschulen aller deutsch- und mehrsprachigen Kantone, orientiert sich grundsätzlich an Kompetenzen, welche die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen. Wissen soll also nicht nur erlernt, sondern vor allem auch fächerübergreifend angewendet werden können. Dieses Konzept ist gerade für die Vermittlung von MINT-Themen gut geeignet. 

Fachbereich Mathematik

Der neue Lehrplan setzt auf einen zeitgemässen Mathematikunterricht, der dem Alltagsbezug und dem eigenen Erforschen mathematischer und geometrischer Zusammenhänge viel Platz einräumt: «Im Mathematikunterricht werden die Fähigkeiten zum Erkennen von Zusammenhängen und Regelmässigkeiten, zum Transfer, zur Umkehrung der Gedankengänge, zur Abstraktion, zur Logik und zum folgerichtigen Denken gefördert. Dies setzt ein auf Verstehen ausgerichtetes Lernen und Lehren von Mathematik voraus, welches zu eigenen Einsichten führt und die Denk- und Urteilsfähigkeit für die Auseinandersetzung mit künftig auftretenden Problemen stärkt.» Für nahezu jede Berufsausbildung, insbesondere aber für MINT-Berufe sind diese Fähigkeiten elementar. Guter Mathematikunterricht zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass er den Schülerinnen und Schülern die Verknüpfung der Inhalte mit ihrem Alltag ermöglicht und sie auf ihrem jeweiligen Erkenntnisstand und Leistungsniveau abholt. Die in den letzten Jahren neu erarbeiteten Lehrmittel setzen deshalb auf sogenannt «substanzielle Mathematikaufgaben»: Aufgaben, die eine Bearbeitung auf unterschiedlichen Leistungsniveaus zulassen. So kann verhindert werden, dass Schülerinnen und Schüler entweder aus Über- oder Unterforderung im Unterricht die Motivation verlieren. Sie werden im Gegenteil dazu motiviert, eigenständig weiterzudenken, Muster zu erkennen und neue Lösungswege zu suchen. Auf dieser Basis ist für die Lernenden ein intensiver Austausch über mathematische Fragestellungen und Erkenntnisse möglich, der über das rein Abstrakte der Zahlenwelt hinausgeht. Oder anders gesagt: Die Schülerinnen und Schüler sollen in der Mathematik eine sinnvolle und fürs Leben nützliche Disziplin erkennen können.  Hilfreich könnte es beispielsweise sein, den Nutzen der angewandten Mathematik und das Verständnis über wirtschaftliche Zusammenhänge zu verbinden. So zeigt die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf, wie gross die Chance eines Lotteriegewinns ist und ob die knappen Mittel dort sinnvoll investiert sind.

Einen eigentlichen Knackpunkt stellt der Übergang vom einfachen Rechnen zur abstrakten Mathematik dar. Damit die Kinder an diesem Punkt nicht abgehängt werden, muss dieser Phase besondere Beachtung geschenkt werden.

Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG)

Naturwissenschaften und Technik werden im Lehrplan 21 diesem sehr umfassenden Fachbereich zugeordnet. Dabei gelten vergleichbare didaktische Grundsätze wie im Fachbereich Mathematik: «Durch den naturwissenschaftlichen Unterricht sollen Phänomene aus Alltag und Technik besser verstanden und eigene Erfahrungen mit der Umwelt erklärt werden können.» Gerade die Bedeutung des spielerischen Experimentierens kann nicht genug betont werden, wenn es darum geht, mit Naturwissenschaft und Technik in Kontakt zu treten. Guter Unterricht sollte aber über das reine Analysieren, Verstehen und Verknüpfen hinausgehen, indem er es schafft, bei den Schülerinnen und Schülern eine Faszination für diese Themen zu wecken. Oder sie dort, wo sie bereits vorhanden ist, zu stärken. Der neue Lehrplan lässt die Möglichkeit zu, naturwissenschaftliche und technische Themen auch fächerübergreifend zu vermitteln. Dies erhöht deren Attraktivität für die Schülerinnen und Schüler ungemein.

Fachbereich Gestalten

Gestalten gehört zwar nicht in den traditionellen MINT-Fächerkanon, ist für die MINT-Förderung aber dennoch wichtig. In den gestalterischen Fächern erproben Kinder im Idealfall verschiedenste Materialien und Werkzeuge und setzen sich mit konkreten Fragen der Produktgestaltung und Technik auseinander. Im Teilbereich Bildnerisches Gestalten beinhaltet der neue Lehrplan zahlreiche Kompetenzen im Bereich Bauen und Konstruieren, Fähigkeiten im Umgang mit konstruktiven Materialien und Werkzeugen. Im Teilbereich Textiles und Technisches Gestalten finden sich Kompetenzen wie das Entwickeln von Produktideen, deren Umsetzung mittels Plänen und Modellen, das Verstehen von Bautechniken, mechanischen Antrieben oder die Auseinandersetzung mit Formen der Energieherstellung. 

Modul «Medien und Informatik»

Im Gegensatz zu den ersten Fassungen des Lehrplans 21 ist die Informatik nun im Modul «Medien und Informatik» angemessen berücksichtigt. Der Lehrplan sieht vor, dass die Schülerinnen und Schüler die Grundkonzepte der Informatik verstehen und gezielt zur Problemlösung einsetzen können. Als Anwender sollen sie Informatik auch als Unterstützung für die eigenen Lernprozesse in verschiedenen Fächern einsetzen und als Kommunikationsinstrument nutzen können – auch im Hinblick auf den späteren Berufsalltag. Denn die «digitale Fitness» wird in Zukunft eine noch wichtigere Grundvoraussetzung für Studium, Forschung und Innovation. Im Zuge von «big data» werden auch statistisches Wissen und die Fähigkeit zur Versuchsplanung immer bedeutsamer. Wichtig ist aber, dass dieses Modul auch tatsächlich in die Lehrpläne der Kantone Eingang findet und entsprechend mit Lektionen dotiert wird. Ein entscheidender Schritt ist der Perspektivenwechsel vom reinen Konsumieren (zum Beispiel von Spielen oder dem Internet) zum eigenen Produzieren und Gestalten. Damit wertet der Lehrplan 21 die Informatik auf und schreibt vor, dass sie separat und nicht als ein mehr oder weniger freiwilliger Teil der Medienschulung zu unterrichten ist. Ziel ist es, die Problemlösungskompetenz zu schulen. Bereits mit einfachen Übungen kann im Schulunterricht vermittelt werden, dass das Programmieren kein Buch mit sieben Siegeln ist und man auch mit Anfängerkenntnissen Erfolgserlebnisse haben kann.

Modul «Berufliche Orientierung»

Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur einen persönlichen Bezug zur Arbeitswelt herstellen, sondern sich auch einen Überblick über das schweizerische Bildungssystem verschaffen können. Wer sich bewusst mit seinen eigenen Interessen und Fähigkeiten auseinandergesetzt hat und über die vielfältigen Möglichkeiten – auch der späteren Weiterbildung – umfassend informiert ist, der entscheidet sich nicht unmotiviert fürs Gymnasium oder die erstbeste Lehrstelle. Anstatt den «Weg des geringsten Widerstands» einzuschlagen, nimmt die eine oder der andere so wohl eher eine als herausfordernd geltende MINT-Ausbildung in Angriff. Auch das Modul Berufsorientierung muss deshalb in den Kantonen mit einer angemessenen Zahl an Lektionen versehen werden.

Massnahmen zur MINT-Förderung auf allen Schulstufen

2012 wurde die separate Benotung der naturwissenschaftlichen Fächer (Physik, Chemie, Biologie) für die Matura wieder eingeführt und deren Stellenwert am Gymnasium somit wieder erhöht. An manchen Gymnasien werden mittlerweile auch eigentliche MINT-Klassen geführt(beispielsweise in Köniz).  In der Volksschule war in den letzten Jahrzehnten hingegen eine andere Tendenz zu beobachten. Die Lektionentafel wurde mit etlichen neuen Inhalten befrachtet, allen voran mit dem Unterricht für eine zweite Fremdsprache. Gekürzt wurde andernorts, beispielsweise bei der Mathematik. Einige Kantone wie zum Beispiel Bern wollen auch im Hinblick auf die Einführung des Lehrplans 21 bei der Mathematik Zeit einsparen, um für die neuen Module Platz zu schaffen. Dies darf nicht sein. Die Mathematik liefert die unentbehrlichen Grundlagen für die anderen MINT-Fächer. Es muss auf allen Schulstufen von der Volksschule bis zum Gymnasium sichergestellt werden, dass der MINT-Unterricht tendenziell aus- und sicher nicht abgebaut wird. Die Attraktivität des Unterrichts auf allen Schulstufen hängt ausserdem stark von den eingesetzten Lehrmitteln ab. Auch diese sollten den spielerischen Zugang zu MINT-Themen noch stärker betonen und Bezüge zum Alltag aufzeigen. Im Zuge der aktuellen Lehrplanrevision müssen ohnehin viele Lehrmittel neu konzipiert werden – diese Gelegenheit gilt es zu nutzen. Gleichzeitig müssen auch die Aus- und Weiterbildungen an den Pädagogischen Hochschulen auf eine fokussierte und fachkompetente Umsetzung des LP 21 abzielen.

Mathematikunterricht im Gymnasium hinterfragen

Viele Gymnasiasten erzielen eine ungenügende Mathematiknote in der Matura. Sie werden unterrichtet von Lehrkräften, die ihrerseits in Mathematik während ihrer gesamten Schulzeit keinerlei Verständnisprobleme erlebt und später erfolgreich ein Mathematikstudium abgeschlossen haben. Diese Personen benötigten für das Verständnis des Mathematikstoffes weder didaktisch gut aufbereitete Lektionen noch mussten sie durch konkrete Anwendungen motiviert werden. Kann dies ein Grund dafür sein, dass trotz der doch recht scharfen Selektion an unseren Gymnasien viele junge Menschen ungenügende Mathematiknoten schreiben? Fakt ist jedenfalls, dass bei einem guten Matheunterricht, in dem auch der Sinn des Faches aufgezeigt wird, die allermeisten folgen können. Daher stellt sich die Frage: Wieso unterrichten am Gymnasium nicht Informatikerinnen, Ingenieure oder Ökonomen Mathematik? Würden solche Lehrerinnen und Lehrer nicht eher den Praxisbezug herstellen und Mathe verständlicher unterrichten?Gerade von angehenden Lehrerinnen und Lehrern sollte die Mathematik nicht als Frustfach erlebt werden, denn sie sollen das Fach ja dereinst mit Freude unterrichten. 

Motivierte Lehrerinnen und Lehrer

Dreh- und Angelpunkt für einen guten MINT-Unterricht sind motivierte und fähige Lehrkräfte. Deshalb ist es einerseits eine Frage der richtigen Selektion und andererseits einer entsprechenden Ausbildung, motivierende Lehrkräfte in die Klassenzimmer zu bringen. Falsch wäre es allerdings, die Aufwertung des MINT-Unterrichts über die obligatorische Einführung bestimmter Lernformen und -instrumente erzwingen zu wollen. Die Methodenfreiheit muss gewährleistet bleiben – es führen viele Wege zum Ziel. Ein Erfolg versprechender Ansatz ist der Fokus auf attraktiven MINT-Unterricht innerhalb von Weiterbildungsangeboten für erfahrene Lehrkräfte. Der Kanton Bern hat mit solchen Angeboten im Rahmen seines Pilotprojekts «Bildung und Technik» von 2013 bis 2015 sehr positive Erfahrungen gesammelt. Wer sich weiterbildet, sollte entsprechend honoriert werden – über das Salär oder mehr Freiheiten bei der Unterrichtsgestaltung.

Öffnen der Klassenzimmer

Niemandem käme es in den Sinn zu behaupten, dass Kindern der Schulzahnarzt nicht zugemutet werden könne, weil dieser keine pädagogische Ausbildung besitze. Niemand protestiert, wenn auf einer Exkursion der Bienenzüchter, die Bäuerin, der Tierpfleger oder die Leiterin der Abwasserreinigungsanlage den Schülerinnen und Schülern Sachverhalte erklären, auch wenn sie keine pädagogische Ausbildung vorweisen können. Die konkrete Erfahrung und der direkte Bezug zu Beruf und Lebensumfeld legitimieren ausreichend, dass diese Expertinnen und Experten im Unterricht zu Bezugspersonen werden können. Es stellt sich deshalb die Frage, weshalb Gleiches nicht vermehrt auch für Informatiker, Ingenieurinnen oder Forschende gelten soll. Fachpersonen, welche die Erkenntnisse der Mathematik im Alltag bzw. in ihrem wirtschaftlichen Umfeld anwenden, könnten einen sehr nützlichen Beitrag leisten, um die Sinnhaftigkeit des Mathematikunterrichts zu verbessern. Solche Experten finden sich wahrscheinlich im Umfeld nahezu jeder Schule. Die anstehende Pensionierungswelle unter MINT-Fachkräften kann so auch zur Chance werden. Aber auch Eltern, Personen aus dem Bekanntenkreis der Kinder oder der Lehrkraft können mit ihrem Know-how den Unterricht auf allen Schulstufen bereichern, falls sie bereit sind, ihr Wissen und die Begeisterung für ihren Beruf mit anderen zu teilen; beispielsweise auf einer Exkursion, in einer Projektwoche, als Mentoren für eine Semesterarbeit oder indem sie eine Klasse in einem Thema über längere Zeit begleiten. Die Schule kann nur gewinnen, wenn sie diese Ressourcen künftig noch besser einbindet. Klar ist, dass die pädagogische Verantwortung bei der Lehrperson bleiben muss und die Einbindung externer Fachpersonen für diese nicht zu einer noch grösseren bürokratischen Belastung führen darf. 

Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Schule

Eine weitere Möglichkeit, Hemmschwellen gegenüber MINT-Berufen abzubauen, sind praxisbezogene Einsätze von Schülerinnen und Schülern in einem entsprechenden Unternehmen. Im Kanton Graubünden wird diese Idee unter dem Titel MINT-CAMPS GRseit 2014 erfolgreich umgesetzt. In Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR) bieten Unternehmen aus der Region jeweils eine Woche lang über 120 Plätze für Dritt- bis Sechstklässler an. Durch zielstufengerechte, interessante und didaktisch optimierte Aktivitäten werden die Kinder einerseits für MINT begeistert und sehen andererseits, wie ihr in der Schule erlerntes Wissen im Alltag zur Anwendung kommt. Vor Ort betreut werden sie von Studierenden der PHGR sowie den Lernenden aus der betreffenden Firma. Obwohl MINT-CAMPS GR während der Schulferien stattfindet, ist der Andrang jeweils riesig. Solche Projekte müssten auch in anderen Regionen der Schweiz möglich sein.

Sinnhaftigkeit von MINT-Studiengängen aufzeigen

Sind die Grundlagen gelegt und interessieren sich junge Menschen für die MINT-Thematik, gilt es, sie für die entsprechenden Studiengänge zu interessieren. Viele junge Menschen wollen zu einer besseren Welt beitragen und mithelfen, die heutigen Probleme zu lösen. Für die grossen Fragen der Menschheit wie die Lösung der Energieproblematik oder der Umweltverschmutzung, das Heilen von Krankheiten, die Ernährung der Weltbevölkerung braucht es ein umfassendes MINT-Know-how. Die ETH Zürich hat positive Erfahrungen gemacht, als sie ihre Studienbeschreibungen stärker auf die Sinnhaftigkeit ausgerichtet hat. Dadurch konnten auch vermehrt Frauen angesprochen werden, bei denen eine stark technisch geprägte Weltsicht oft auf Ablehnung stösst. Botschaften über die Sinnhaftigkeit können junge Menschen motivieren, den MINT-Weg einzuschlagen. Ganz nach dem Motto: «Save the planet with MINT!»

Weitere Sensibilisierung für das Thema

Gute Projekte zur MINT-Förderung sind vorhanden, und sie werden rege genutzt. Doch bis der Wert und die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit MINT-Themen in der breiten Bevölkerung verankert sind, braucht es von allen Beteiligten Ausdauer und Geduld. Nur wenn grosse Teile der Bevölkerung für das Thema sensibilisiert werden können, werden Rollenbilder verändert. In der Familie, in der Kinderkrippe oder im Kindergarten kann dann der Nachwuchs auf spielerische Weise bereits in der frühkindlichen Phase für MINT-Themen begeistert werden. Eine erfolgreiche MINT-Förderung ist langfristig ausgerichtet. Die Wirtschaft und der gesamte Bildungssektor sind gleichermassen gefordert, das Verständnis für die MINT-Thematik in der Gesellschaft weiter zu fördern.