# 1 / 2020
10.03.2020

Keine Vergleiche im Strafrecht – Die aufgeschobene Anklageerhebung für Unternehmen

1. Schweizerisches Unternehmensstrafrecht – Quo vadis?

1.1. Einordnung in die aktuelle Diskussion

Die Bundesanwaltschaft hatte im Rahmen der Revision der Strafprozessordnung die Einführung einer aufgeschobenen Anklageerhebung für Unternehmen (AAU) gefordert. Bei der AAU handle es sich um eine aussergerichtliche Einigung, nach welcher die Staatsanwaltschaft einstweilen auf eine Anklageerhebung verzichte, solange das Unternehmen die «vereinbarten» Verpflichtungen erfülle. Bei der Formulierung von Art. 318bis StPO lehnte sich die Bundesanwaltschaft an das amerikanische Instrument Deferred Prosecution Agreement (DPA) an. Begründet wurde dieser Vorschlag mit der Wahrung der Interessen der schweizerischen Unternehmen. Der Bundesrat lehnte die Aufnahme der AAU in die Strafprozessordnung ab, da die ohnehin schon starke Stellung der Staatsanwaltschaft noch weiter ausgebaut würde und keine entsprechenden Gegengewichte oder Kontrollmechanismen vorgesehen seien.

a) Forderung der Bundesanwaltschaft: Aufgeschobene Anklageerhebung für Unternehmen

Revision der Strafprozessordnung

Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats beauftragte im Jahr 2014 den Bundesrat, die seit 2011 in Kraft stehende eidgenössische Strafprozessordnung auf ihre Praxistauglichkeit zu prüfen (Motion 14.3383). Entsprechend sandte der Bundesrat am 1. Dezember 2017 die Änderung der Strafprozessordnung (StPO) in die Vernehmlassung.

Stellungnahme der Bundesanwaltschaft

Die Bundesanwaltschaft liess sich in ihrer Stellungnahme vom 20. März 2018 zur Revision der Strafprozessordnung vernehmen und stellte fest, dass die Tendenz bestehe, den Strafprozess analog einem Zivilprozess auszugestalten, obwohl der Staatsanwalt gestützt auf einen übergeordneten Auftrag primär der Suche nach der materiellen Wahrheit verpflichtet sei.

Gleichzeitig stellte die Bundesanwaltschaft den Antrag, neu einen 5. Abschnitt mit einem Art. 318bis StPO einzufügen und damit die Möglichkeit einer aufgeschobenen Anklageerhebung bei Strafverfahren gegen Unternehmen (AAU) zu schaffen. Es bestehe in der Strafverfolgungspraxis das Bedürfnis, in Anlehnung an das aus dem angelsächsischen Recht bekannte Institut des DPA, die Möglichkeit einer aufgeschobenen Anklageerhebung für Unternehmen zu schaffen. Dabei handle es sich um eine aussergerichtliche Einigung, nach welcher die Staatsanwaltschaft einstweilen auf eine Anklageerhebung verzichte, solange das Unternehmen die «vereinbarten» Verpflichtungen erfülle.

grafik art318

 

Begründung der Bundesanwaltschaft zur Einführung einer AAU

Die Bundesanwaltschaft bezweckte mit ihrer Forderung nach Einführung einer AAU, schweizweit diesbezüglich eine Diskussion in Gang zu bringen. Zudem sollte damit die Möglichkeit geschaffen werden, «zum Schutz der Interessen von Schweizer Unternehmen» eine Anklageerhebung aufzuschieben und bei Einhaltung der vereinbarten Nebenfolgen auf eine Anklage nach Ablauf der Probezeit zu verzichten. Würden bestimmte rechtsstaatliche Ziele erfüllt, entfalle das staatliche Bedürfnis nach einem zusätzlichen, formellen Urteilsspruch gegen Unternehmen.

Voraussetzungen für den Abschluss einer Vereinbarung zwischen Strafverfolgungsbehörden und Unternehmen

Als zentral für den Abschluss einer Vereinbarung über eine AAU werden gemäss Vorschlag der Bundesanwaltschaft eine Selbstanzeige des Unternehmens oder die rasche Einlassung auf die Strafuntersuchung sowie die volle Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden angesehen. Das Unternehmen werde verpflichtet, den strafrelevanten Sachverhalt und allfällige Zivilansprüche anzuerkennen und die interne Compliance zwecks Verhinderung künftiger Straftaten sicherzustellen.

Es liege im alleinigen Ermessen der Strafverfolgungsbehörde zu entscheiden,

  • ob eine Vereinbarung zwischen Unternehmen und Strafverfolgungsbehörden zustande komme;
  • welches der auf Kosten des Unternehmens einzusetzende unabhängige Prüfbeauftragte («Compliance Monitor») hinsichtlich der zu ergreifenden Compliance-Massnahmen sei;
  • ob das Unternehmen die während der Probezeit im Vertrag aufgestellten Bedingungen und Auflagen erfüllt habe und
  • ob sich das Unternehmen bewährt habe und das Verfahren einzustellen sei (Art. 319 Abs. 1 lit. d StPO) oder ob Anklage erhoben werde (Art. 324 ff. StPO).

Im Falle einer - trotz abgeschlossener Vereinbarung zwischen Unternehmen und Strafverfolgungsbehörden - späteren Anklageerhebung gegen das Unternehmen

  • bleibe die Anerkennung des Sachverhalts in der Vereinbarung im Hauptverfahren verwertbar;
  • könne das Gericht hinsichtlich Bussen und Einziehungen bei abweichender Würdigung einen neuen Entscheid fällen und
  • würden vom Unternehmen bereits geleistete Entschädigungszahlungen an die Privatklägerschaft als erledigt gelten und das Gericht habe sich nicht mehr damit zu befassen, wodurch es entlastet werde.

Unterstützung durch den SAV

Der Schweizerische Anwaltsverband (SAV) begrüsste die Idee der Einführung einer AAU, da in Verfahren gegen international tätige Unternehmen eine Verurteilung zu tief greifenden Kollateralschäden führen könne. Allerdings wies der SAV darauf hin, dass nicht einzusehen sei, weshalb die AAU nur juristischen Personen gemäss Art. 102 Abs. 4 StGB zur Verfügung stehen solle, da auch natürlichen Personen im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung existenzbedrohende Nachteile erwachsen können. Die Einführung der von der Bundesanwaltschaft geforderten AAU sei zum Schutz der Interessen von schweizerischen Unternehmen jedoch vordringlich. Rechtsstaatliche Bedenken seien nicht ersichtlich.

b) Keine Aufnahme der AAU durch Bundesrat in die StPO

Der Bundesrat lehnte es im August 2019 ab, die aufgeschobene Anklageerhebung für Unternehmen in die revidierte Strafprozessordnung aufzunehmen. Begründet wurde dies damit, dass die ohnehin schon starke Stellung der Staatsanwaltschaft nicht noch weiter ausgebaut werden soll, ohne dass Gegengewichte oder auch nur Kontrollmechanismen (zum Beispiel Erfordernis gerichtlicher Genehmigung, Rechtsmittelmöglichkeiten) vorgesehen wären.

Das System des Strafrechts basiere darauf, dass sich Personen gerade deshalb regelkonform verhalten, weil ihnen das Strafrecht im Falle eines Regelverstosses Sanktionen androhe. Dieses System würde einen Einbruch erleiden, wenn im Falle eines Regelverstosses von einer Strafverfolgung abgesehen werden könnte und die beschuldigte Person dies durch Leistung einer Busse und das Versprechen künftigen Wohlverhaltens «erkaufen» könnte.

1.2. Schweizerisches Unternehmensstrafrecht

Während langer Zeit galt der Grundsatz, dass sich nur natürliche Personen strafbar machen können («societas delinquere non potest»). Seit einigen Jahren scheint dieses Prinzip auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene überholt oder zumindest aufgeweicht worden zu sein.

In der Schweiz können bereits seit dem Jahr 2003 auch Unternehmen strafrechtlich belangt werden. Weil einem Unternehmen die Straftat nicht im klassischen Sinne als individuelle Verfehlung vorgeworfen werden kann, wird das dem schweizerischen Strafrecht zugrunde liegende Schuldprinzip im Bereich des Unternehmensstrafrechts umgedeutet und stattdessen dem Unternehmen mangelhafte Organisation vorgeworfen (Schuldvorwurf «sui generis»).

In zwei unterschiedlichen Fällen werden Unternehmen mit Busse sanktioniert: Im ersten Fall wird das Unternehmen bestraft, weil es verschuldet hat, dass der natürliche Täter nicht eruiert werden kann (Art. 102 Abs. 1 StGB). Im zweiten Fall wird dem Unternehmen eine Mitschuld am begangenen Delikt angelastet (Art. 102 Abs. 2 StGB). Wie das Bundesgericht unlängst bestätigte, handelt es sich bei der originären Unternehmensverantwortlichkeit nach Art. 102 Abs. 2 StGB nicht um eine reine Kausalhaftung: Die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen bei der für das Unternehmen handelnden natürlichen Person müssen erfüllt sein, damit eine Strafbarkeit des Unternehmens bejaht werden könne. Diese höchstrichterliche Klarstellung wurde unter Verweis auf die Rechtssicherheit und die Ultima Ratio des Strafrechts begrüsst. Zudem erwähnenswert ist, dass nicht alle Länder ohne Weiteres ein Unternehmensstrafrecht kennen. In Deutschland beispielsweise sind Unternehmen als solche nicht schuldfähig, sondern haften lediglich als Konsequenz aus der von Unternehmensmitarbeitenden begangenen Straftaten.

1.3. Grundsätze des geltenden schweizerischen Strafprozesses

Im Jahr 2011 wurden die verschiedenen kantonalen Strafprozessordnungen zur heute geltenden Schweizerischen Strafprozessordnung vereinheitlicht. Die verschiedenen angewendeten Verfahrensprinzipien in strafrechtlichen Verfahren garantieren die Rechtsstaatlichkeit (zum Beispiel Pflicht des Staates zur Wahrheitssuche, Gewaltmonopol des Staates, Selbstbelastungsverbot, Unschuldsvermutung, Grundsatz des fairen Verfahrens, Legalitätsprinzip, Strafrecht als Ultima Ratio).

Abweichungen und Ausnahmen von diesen – für die beschuldigte Person bzw. das beschuldigte Unternehmen äusserst wesentlichen Prinzipien – sind auf nachvollziehbare Art und Weise zu begründen, um den Eindruck von Willkür zu vermeiden.

Der Schweizerische Anwaltsverband ging in seiner Stellungnahme vom 13. März 2018 davon aus, dass bei der Einführung des Instituts AAU keine rechtsstaatlichen Prinzipien tangiert würden. In ihrer Stellungnahme vom 20. März 2018 ging die Bundesanwaltschaft noch weiter und begründete die vorgeschlagene Einführung der AAU mit der Wahrnehmung und Verfolgung rechtsstaatlicher Ziele.

1.4. Bestehende Instrumente

Abweichungen von den bekannten, obgenannten Grundsätzen im Strafverfahren bedürfen einer gesetzlichen Grundlage.

Bei vielen dieser Regelungen spielt ein weitgehendes Ermessen der Strafverfolgungsbehörden eine grosse Rolle, wodurch die genannten Grundsätze relativiert werden bzw. letztendlich die Rechtssicherheit tendenziell abgeschwächt wird .

Bereits heute ist es in der Schweiz unter bestimmten Voraussetzungen möglich, ein Verfahren abgekürzt zu erledigen (Art. 358–362 StPO) oder ein Verfahren bei fehlendem Strafbedürfnis (Art. 52 StGB) bzw. durch Wiedergutmachung einzustellen (Art. 53 StGB i.V.m. Art. 316, 319 StPO). Ohne auf die jeweiligen Normen einzugehen, wird in der Lehre zu Recht darauf hingewiesen, dass bei diesen besonderen Verfahrensarten zwingend ein stärkerer Schutz des Beschuldigten ermöglicht werden soll. Insbesondere sind den Strafverfolgungsbehörden bei Ausübung ihres Ermessensspielraums Leitlinien zur Verfügung zu stellen, um einen willkürfreien Verfahrensablauf zu garantieren. Ebenso wird darauf hingewiesen, dass die «konsensuale Erledigung» von Strafverfahren (vgl. Art. 316 Abs. 2 StPO) aufgrund unseres kontinentaleuropäischen Verständnisses eines im Sinne eines Offizialverfahren ausgestalteten Strafverfahrens als «ungewohnt» bezeichnet werden müsse. Entsprechend wird eine Absprache zwischen Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigtem in unseren Breitengraden regelmässig auch als «Deal», «Handel», «Handel mit Gerechtigkeit», «Handel über ein Schuldgeständnis» oder auch als «(unzulässiger) Kuhhandel» bezeichnet.

Regelmässig wird daher die Strafbefreiung nach Art. 53 StGB auch deshalb kritisiert, weil in gewisser Weise ein Freikauf von strafrechtlicher Schuld ermöglicht werde. Bestrebungen, diese Bestimmung aus diesen Gründen abzuschaffen, wurden vom Nationalrat im Jahr 2012 abgelehnt. Dennoch haben die eidgenössischen Räte die Voraussetzungen der Bestimmungen kürzlich eingeschränkt, indem die Wiedergutmachung ein Schuldeingeständnis der Täterin oder des Täters voraussetzt und nur noch möglich ist, wenn keine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr in Betracht kommt. Die Einführung einer umfassenden «justice restaurative», wie von einzelnen Vernehmlassungsteilnehmern zur Änderung der Strafprozessordnung gefordert, stünde denn auch zu dieser jüngsten Entwicklung in einem Spannungsverhältnis.

Das abgekürzte Verfahren wird deswegen angestrebt, um Personen oder Unternehmen nicht einer öffentlichen Verhandlung aussetzen zu müssen. Aber auch dieses Verfahren ist nicht unumstritten. Die Reduktion der Öffentlichkeit verstärke aber das Misstrauen in die Justiz und auch in die Strafverfolgung. Gerade wenn grosse Unternehmen in halböffentlichen Verfahren «Deals» mit der Strafverfolgung abschliessen würden, sei eine mediale Aufsicht nötig.

Es wird noch durch die Politik zu klären sein, ob nicht – auch aus Gründen der Verhältnismässigkeit – allenfalls bereits heute bestehende Rechtsbestimmungen (bspw. Art. 53 StGB) modifiziert werden können, anstatt ein unserem Rechtssystem atypisches und nicht erprobtes Rechtsinstitut einzuführen.

1.5. Strafverfahren gegen Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit

In nicht abschliessender Weise wird nachfolgend auf zwei exemplarische Strafverfahren gegen Unternehmen in der Schweiz eingegangen.

 

a) Strafverfahren gegen Alstom

Im Fall Alstom hat die schweizerische Bundesanwaltschaft die Anwendbarkeit von Art. 102 StGB nicht nur für die ausländische Konzernmutter Alstom SA mit Sitz in Frankreich, sondern darüber hinaus auch für die Konzerntochter Alstom Network (Schweiz) AG mit Sitz in Baden bejaht und gegen beide Unternehmen gestützt auf Art. 102 Abs. 2 StGB eine Strafuntersuchung eröffnet. Diese Strafuntersuchungen wurden später gestützt auf Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO i.V.m. Art. 53 StGB (Alstom SA) bzw. mittels Strafbefehl (Alstom Network (Schweiz) AG) abgeschlossen .

Der Umstand, dass das Verfahren mit einer bedeutenden Busse und Einziehungssumme gegen die Unternehmen abgeschlossen wurde, galt auf internationaler Ebene als Beweis, dass unser Unternehmensstrafrecht nicht bloss toter Buchstabe sei. Zudem wurde der ehemalige Compliance Manager der Alstom Network in Untersuchungshaft genommen, was damals europaweit als präzedenzlos qualifiziert wurde.

 

b) Strafverfahren gegen die Post

Ab dem Konto einer Anlagefirma, deren Verantwortlichen im Verdacht des gewerbsmässigen Betrugs standen, erfolgte ein Bargeldbezug bei der schweizerischen Post. Bei den betreffenden Geldern soll es sich um veruntreute Kundengelder gehandlet haben. Das Bundesgericht sprach die Post der Geldwäscherei frei (vgl. BGE 142 IV 333). Dieses hielt fest, dass die strafrechtliche Haftung von Unternehmen in jedem Fall ein Delikt voraussetzte, womit ein Mitarbeiter in Ausübung seiner Tätigkeit sich tatsächlich strafbar gemacht haben müsse. Zwar hätten sich die Kassiererin und der Compliance-Mitarbeiter der Post in objektiver Hinsicht wohl tatsächlich der Geldwäscherei schuldig gemacht. Doch da ihnen die kriminelle Herkunft des Geldes nicht bekannt gewesen sei, habe es am subjektiven Erfordernis gefehlt, weshalb kein Delikt innerhalb des Unternehmens vorgelegen habe, welches eine Strafbarkeit der Post hätte begründen können. Damit stellte das Bundesgericht fest, dass die Unternehmenshaftung keine reine Kausalhaftung darstelle.

Selbst wenn ein Mitarbeiter eine Straftat begangen habe, reiche dies allein noch nicht aus, um der Firma eine Pflichtverletzung vorzuwerfen. Vielmehr brauche es den Nachweis, dass die Gesellschaft nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen habe, um das Delikt zu verhindern.

 

c) Fazit

Das schweizerische Unternehmensstrafrecht wird auf internationaler Ebene nicht als toter Buchstabe betrachtet. Zudem hat das Bundesgericht unlängst eine strafrechtliche Kausalhaftung des Unternehmens verneint. Damit steht zweierlei fest:

  1. Auf internationaler Ebene können aufgrund der aktuell bestehenden Instrumente durchaus Erfolge in strafverfolgungsrechtlicher Hinsicht festgestellt werden.
  2. Es kann sich für Unternehmen lohnen, vor Gericht für ihr Recht bzw. einen Freispruch zu kämpfen und sich nicht vorschnell auf sie in ungerechtfertigterweise bedrängende Vereinbarungen einzulassen.

Vor diesem Hintergrund ist der Nutzen des durch die Bundesanwaltschaft vorgeschlagenen Deferred Prosecution Agreement (DPA) für Unternehmen in der Schweiz genauer unter die Lupe zu nehmen.