Wirtschafts- und Wissenschaftsmission Mercosur: Argentinien im Spannungsfeld

Nach über einem Jahrzehnt der Abschottung soll die argentinische Wirtschaft wieder in die Weltwirtschaft integriert werden. Das Freihandelsabkommen zwischen den EFTA-Staaten und dem Mercosur wird dabei als wichtiges Instrument gesehen. Dieses ist in Argentinien Teil eines grösseren Vorhabens: Es braucht tief greifende Reformen in allen Staatsbereichen und eine Modernisierung der gesamten Wirtschaft. Das hat der Besuch der Wirtschafts- und Wissenschaftsmission von Bundesrat Schneider-Ammann gezeigt.

Wirtschaftspolitik in Argentinien: Tango ist besser als Herumhüpfen

Wie in vielen Ländern Südamerikas war auch die argentinische Wirtschaftspolitik seit jeher von grossen und abrupten Richtungsänderungen gekennzeichnet. In den letzten 20 Jahren waren die Ausschläge jedoch selbst für hiesige Gepflogenheiten gewaltig. Nach Öffnungen und Liberalisierungen in den 1990er-Jahren kam es in der langen Regierungszeit der Kirchners zu einer Abschottung grosser Teile der argentinischen Wirtschaft und einer Schuldenwirtschaft sondergleichen. Die Regierung von Präsident Maurizio Macri musste daher die Scherben zerbrochener Illusionen zusammenkehren. Und es lag wirklich viel am Boden, als der Liberale 2016 die Regierung übernahm: desolate öffentliche Finanzen, Inflation von über 40 Prozent, 25 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, systemische Steuerflucht und eine ungenügende Produktivität in fast allen Bereichen der Wirtschaft. Es kam jedoch nicht zu einem erneuten abrupten Richtungswechsel, sondern «Gradualismus» lautete die Devise. Die Regierung hüpfte nicht mit einem grossen Satz in die gegenüberliegende Ecke, sondern begann eine Reformpolitik der kleinen Schritte. Und jeder dieser Schritte wird auf der Basis eines möglichst breiten Konsens gemacht. Genau wie beim Tango, wo es für beide Tanzpartner eindeutig Vorteile hat, wenn Einigkeit über die nächsten Schritte besteht. Doch im Gegensatz zum Tanz ist der Tango in der argentinischen Politik nicht freiwillig: Macri hat mangels Parlamentsmehrheit gar keine andere Wahl.

Positiver Zwischenstand nach den ersten Reformen

Die Inflation konnte auf 22 Prozent, das Haushaltsdefizit auf vier Prozent des BIP reduziert werden. Die Wirtschaft wuchs letztes Jahr um 2,9 Prozent. Positiv zu vermerken ist zudem, dass die Investitionen im vergangenen Jahr um über elf Prozent zugenommen haben. Diese gehen hauptsächlich in Infrastrukturen und in die Erneuerung der Industrie. Die Aussichten sind gut. So hofft die Regierung, dass die Inflation dieses Jahr unter 20 Prozent zu liegen kommt. Auch das Haushaltsdefizit ist rückläufig. Trotz dieser Fortschritte müssen in den kommenden Monaten aber noch viele dringende Reformen aufgegleist werden.

Kritiker befürchten, dass die Reformen bis zu den nächsten Wahlen zum Erliegen kommen. Doch es bleibt festzuhalten, dass Macri wohl der einzige Regierungschef ist, der trotz fehlender Parlamentsmehrheit Reformen überhaupt durchbringt. Eine eigentlich wünschenswerte Beschleunigung der Reformen dürfte keine realpolitische Option sein, da Macri dadurch seine Chancen auf die Wiederwahl schmälern würde.

Das Freihandelsabkommen mit der EFTA als Teil der Neuausrichtung

Kern der wirtschaftspolitischen Neuausrichtung ist die Reintegration in die globale Wertschöpfung. Hier hat das Freihandelsabkommen mit der EFTA einen hohen Stellenwert. Durch eine Öffnung des Inlandmarktes sollen die Rahmenbedingungen verbessert und besonders Direktinvestitionen ermuntert werden. Die Schweiz wird hierbei als siebtgrösste Direktinvestorin als wichtige Partnerin eingestuft. Diese Investitionen sind zwingend, da die argentinische Wirtschaft auf Technologien aus dem Ausland angewiesen ist, um die eigene Produktivität zu steigern. Argentinien hat hier dank seines hohen Ausbildungsstands eine gute Ausgangslage. So ist der Export von Dienstleistungen bereits heute sehr dynamisch und erreicht den Wert der argentinischen Weinexporte.

Es ist klar, dass Argentinien für seine Agrarexporte auch einen besseren Marktzugang in die EFTA-Staaten anstrebt. Doch wie in den anderen Mercosur-Ländern liegt der Fokus eindeutig auf Nischenprodukte im Hochpreissegment. Man muss sich auch die Grössenverhältnisse vor Augen halten: Die Agrarproduktion Argentiniens reicht momentan zur Ernährung von über 400 Millionen Menschen aus. Die EFTA ist angesichts rund 13 Millionen Konsumenten mehr ein interessanter als ein entscheidender Absatzmarkt für die argentinischen Agrarexporte. «Es ist wichtig, dass Verbesserungen des gegenseitigen Marktzugangs nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, da das Freihandelsabkommen durch die Parlamente ratifiziert werden muss», so Victorio Carpintieri, Leiter der Verhandlungen auf der argentinischen Seite.


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