Europa

Wachstum pro Kopf: deutlich höher dank der Bilateralen

Die bilateralen Abkommen mit der EU haben das wirtschaftliche Wachstum der Schweiz stärker positiv beeinflusst als bisher angenommen. Eine umfassende Analyse des Wirtschaftsdachverbands economiesuisse kommt zum Schluss, dass insbesondere die Finanzkrise und die Frankenstärke den Blick auf diese Erfolgsgeschichte verdeckt haben. Zu Unrecht. Dank der Bilateralen stehen die Einwohner der Schweiz heute im Durchschnitt deutlich besser da.

Der Wert der bilateralen Verträge mit der EU ist eine wirtschaftspolitische Schlüsselfrage der kommenden Monate und Jahre. Dabei interessiert vor allem, wie sich das Pro-Kopf-Einkommen der Schweizer Bevölkerung seit dem Inkrafttreten der Bilateralen I im Jahr 2002 entwickelt hat. Hat sich das Wachstum tatsächlich verstärkt? Oder hat der Anstieg der Wohnbevölkerung dazu geführt, dass für den Einzelnen gar nicht mehr übrig bleibt? economiesuisse ist diesen Fragen in einer heute in Zürich präsentierten Studie auf den Grund gegangen und kommt zu eindeutigen Antworten.

Das Bundesamt für Statistik weist für die Zeit von 2002 bis 2014 ein jährliches Realwachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf von 0,92 Prozent aus. Im vorangehenden Jahrzehnt (1991 bis 2001) lag dieses bei lediglich 0,53 Prozent pro Jahr. Trotz dieser Differenz konnte bisher nicht schlüssig aufgezeigt werden, dass tatsächlich von einem statistisch gesicherten Mehrwachstum gesprochen werden kann und die Bilateralen sich positiv auf das Pro-Kopf-Einkommen ausgewirkt haben. Einer der Gründe ist das vergleichsweise langsame Wachstum seit 2008. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise sorgte dafür, dass der Erfolg des bilateralen Vertragspakets heute nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar ist. Auch deshalb werden immer wieder Zweifel geäussert, ob die Schweizer Bevölkerung überhaupt von den Abkommen profitieren konnte, oder ob die Schweiz aufgrund der hohen Zuwanderung hauptsächlich in die Breite gewachsen ist.

Wachstum in der Schweiz vor dem Hintergrund des aussenwirtschaftlichen Umfelds

Um diese Frage zu klären, ist es unabdingbar, auch das von der Schweiz nicht beeinflussbare, aussenwirtschaftliche Umfeld zu beachten. Die Weltwirtschaft wurde ab 2008 von der grössten Krise seit dem Erdölschock von 1972 erschüttert. Von deren Auswirkungen blieb auch die Schweiz nicht verschont. Hinzu kam das Problem der hohen Staatsschulden in den EU-Ländern: Dies verzögerte nicht nur die wirtschaftliche Erholung des mit Abstand wichtigsten Schweizer Handelspartners, sondern führte auch zu einer schmerzhaften Aufwertung des Schweizer Frankens. Diese Phänomene verschlechterten die wirtschaftlichen Voraussetzungen und führten zu tieferen Wachstumsraten in der Schweiz – unabhängig von der Existenz der bilateralen Verträge. Es ist offensichtlich: Die isolierte Betrachtung der einfachen Wachstumsraten kann die Wirkung der bilateralen Verträge nicht zuverlässig erfassen. Eine fundierte Untersuchung muss die äusseren Rahmenbedingungen zwingend mitberücksichtigen. Dazu zählen neben der Auslandskonjunktur und dem Wechselkurs auch die Höhe des Ölpreises oder das jeweils vorherrschende Zinsniveau. Doch auch die Auswirkungen der binnenwirtschaftlich verursachten Wachstumskrise in den 1990er-Jahren dürfen nicht ignoriert werden. Die vorliegende Studie bietet eine solche Analyse. Mittels statistischer Standardmethodik (lineares Regressionsmodell) wurde das Wachstum des Schweizer Bruttoinlandprodukts pro Kopf unter Einbezug der genannten externen Einflüsse untersucht.

Resultate zeigen eindeutigen Wachstumsschub durch die bilateralen Verträge

Die Analyse brachte aufschlussreiche Ergebnisse. Das Wichtigste: Die Schweizer Wirtschaft ist seit der Einführung der bilateralen Verträge pro Kopf deutlich (das heisst statistisch signifikant) schneller gewachsen als in den vorangehenden Jahren. Ab 2002 ist eindeutig ein positiver Schub für das Pro-Kopf-Wachstum zu beobachten. Dieses Resultat bleibt auch dann robust, wenn die dahinterstehenden Berechnungen in verschiedenster Weise modifiziert werden. Das bedeutet, dass der durchschnittliche Einwohner der Schweiz in substanziellem Ausmass ökonomisch von den Bilateralen profitiert hat. Die Resultate bestätigen zudem, dass das verlangsamte Wachstum seit 2008 auf die aussergewöhnlich schwache Entwicklung im aussenwirtschaftlichen Umfeld – insbesondere im Euroraum – zurückzuführen ist. Das durch die bilateralen Verträge ausgelöste Mehrwachstum hat hingegen entscheidend dazu beigetragen, dass das Pro-Kopf-Wachstum der Schweiz diesen widrigen Umständen ziemlich erfolgreich trotzen konnte. «Ohne die Bilateralen wäre das Pro-Kopf-Wachstum deutlich tiefer ausgefallen», hält economiesuisse-Chefökonom Rudolf Minsch fest. Selbst eine konservative Schätzung zeige, dass ohne den Wachstumseffekt der bilateralen Verträge das Schweizer BIP pro Kopf sich heute auf einem um 5,7 Prozent tieferen Niveau bewegen würde. Damit hätte der durchschnittliche Einwohner der Schweiz – Stand heute – jedes Jahr rund 4400 Franken weniger zur Verfügung.

Die der Analyse zugrunde liegenden Berechnungen wurden von Prof. Dr. Aymo Brunetti (Universität Bern), Prof. Dr. Reto Föllmi (Universität St. Gallen) und Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm (KOF, ETH Zürich) kritisch begleitet.

 

Die ausführliche Studie finden Sie hier.