Zwei Männer

«Wir müssen mehr zuhören

Monika Rühl und Heinz Karrer sprechen im Doppelinterview über aktuelle wirtschaftliche Herausforderungen und gewähren einen spannenden Einblick hinter die Kulissen von economiesuisse.

 

Interview: Annika Bangerter und Bastian Heiniger

Herr Karrer und Frau Rühl, seit einem Jahr führen Sie gemeinsam economiesuisse. Wer hat hinter den Kulissen das Sagen?

Karrer: Monika Rühl leitet als Direktorin die operativen und ich als Präsident die strategischen Geschicke. Die Kommunikationsaufgaben nehmen wir beide wahr, etwa Gespräche mit Medien oder Teilnahmen an Podien. So können wir stärker präsent sein.

Rühl: Wir entscheiden nicht, wer hinter oder vor der Kulisse etwas macht, sondern, ob eine Aufgabe strategisch oder operativ ist. Das lässt sich natürlich nicht immer klar unterscheiden. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns regelmässig austauschen und abstimmen. Wir treffen uns alle zwei Wochen zu einem ausführlichen Gespräch. Dazwischen nutzen wir die elektronischen Mittel.

Wie gehen Sie bei unterschiedlichen Meinungen vor?

Rühl: Unser Know-how und unsere Erfahrungen ergänzen sich ideal. Heinz Karrer hat die Wirtschaftserfahrung, ich bringe das Wissen aus Verwaltung und Politik mit. Wenn wir diskutieren, können beide ihre Stärken einbringen. So finden wir gute Lösungen.

Karrer: Deshalb hatten wir bislang keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten. Wir entwickeln in Diskussionen eine gemeinsame Haltung zu den Themen, aber auch zu unserem Vorgehen.

Sie haben vorhin gesagt, dass sie sich die Medienarbeit teilen. In der Schweizerischen Mediendatenbank (SMD) haben Sie, Herr Karrer, aber doppelt so viele Treffer.

Rühl: Er ist natürlich ein Jahr länger im Amt (lacht).

Wir haben nur die Treffer im letzten Jahr gezählt. Ist es typisch Frau, mehr im Hintergrund zu arbeiten?

Rühl: Überhaupt nicht. Ich bin im Februar 2014 gewählt worden und habe an einer Medienkonferenz von economiesuisse teilgenommen. Dort präsentierten mich Heinz Karrer und unser Vizepräsident Hans Hess gegenüber den Medien. Danach sagten wir uns: «Nun verschwindet Frau Rühl von der Medienbildfläche, bis sie am 1. September ins Amt kommt.» Zudem ist es normal, dass der Präsident eine gewichtigere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung hat.

Frau Rühl, Sie waren vorher beim Bund vor allem im Hintergrund tätig. Wie gehen Sie nun mit der plötzlichen Öffentlichkeit um?

Rühl: Das war für mich neu. Aber ich habe mich daran gewöhnt – und es macht mir Spass. Ich stand in meinen vorherigen Funktionen auch ab und zu im Kontakt mit Journalisten. Allerdings nie in diesem Ausmass. Weil Heinz Karrer und ich im Tandem arbeiten, gibt uns das eine breitere Klaviatur. Beispielsweise werde ich oft zu Frauenthemen angesprochen. Etwa als der Bundesrat eine Frauenquote für den Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung von grösseren börsenkotierten Unternehmen forderte. Da bekam ich mehr Medienanfragen, weil economiesuisse und auch ich als Frau gegen diese Quote sind.

Wieso sind Sie gegen eine Frauenquote?

Rühl: In der jüngeren Vergangenheit nehmen erfreulicherweise vermehrt Frauen Einsitz in Verwaltungsräte und in Geschäftsleitungen. Mit strikten Quoten könnten Frauen in eine Position gelangen, ohne das entsprechende Profil aufzuweisen. Das ist kontraproduktiv. Ich möchte, dass die richtigen Frauen am richtigen Ort sind. Eine Quote sogar für Geschäftsleitungen einzuführen, ist ausserdem ein massiver Eingriff ins freie Unternehmertum.

DAS VERTRAUEN IN DIE WIRTSCHAFT

So harmonisch wie zwischen Ihnen beiden ist das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Bevölkerung nicht. Die Abzocker- und die Masseneinwanderungsinitiative haben gezeigt, dass es in den letzten Jahren einen Bruch gab.

Rühl: Das habe ich bereits festgestellt, als ich noch in Bern tätig war. Auch zwischen Wirtschaft und Politik mangelt es teilweise an gegenseitigem Verständnis. Die Wirtschaftsleute verstehen oft nicht, wie die Politik funktioniert – und umgekehrt. Es darf nicht sein, dass Wirtschaft und Politik zunehmend auseinanderdriften.

Wie wollen Sie das ändern?

Rühl: Wir haben das Programm «Wirtschaft und Gesellschaft» lanciert. Damit wollen wir erklären, wie die Wirtschaft funktioniert, was ihre Bedürfnisse sind und welche Rahmenbedingungen sie braucht. Zudem müssen wir mehr zuhören – den Politikern, aber vor allem auch der Bevölkerung. Nur so können wir ihre Anliegen und Ängste besser verstehen.

Viele Menschen ärgern sich über die hohen Gehälter von Managern. Wann werden diese endlich nach unten angepasst?

Karrer: Die damals diskutierten, extremen Gehälter, welche insbesondere nicht mit der Wertentwicklung der Unternehmen übereinstimmten, gibt es heute nicht mehr. Dazu beigetragen hat auch eine Kompetenzverschiebung hin zu den Aktionären. In der Schweiz haben wir insgesamt eine ausgeglichenere Einkommensverteilung als etwa in Frankreich oder in Deutschland.

Rühl: Im erwähnten Programm «Wirtschaft und Gesellschaft» arbeiten wir unter anderem mit Wirtschaftsbotschaftern zusammen. Das sind ausgewählte Persönlichkeiten, die regional verankert sind. Patrons im traditionellen, positiven Sinn, die für ihre Belegschaft sorgen. Es ist wichtig, diese persönliche Seite der Unternehmen wieder hervorzuheben. So können wir zeigen, dass die Wirtschaft sehr vielfältig ist und es sich bei den damals diskutierten Salären um Einzelfälle handelt.

Die Leute stören sich wohl nicht an den regional verankerten Patrons. In den letzten Jahren wurden hingegen vermehrt ausländische CEOs geholt, die genau diese Verwurzelung nicht haben und nach ein paar Jahren wieder weiterziehen.

Karrer: Diese Entwicklung gibt es tatsächlich. Wir bemühen uns, diese ausländischen Führungskräfte so zu sensibilisieren, dass sie sich in der Schweiz zumindest indirekt an wirtschaftspolitischen Diskussionen beteiligen. Denn unsere direkte Demokratie ist einzigartig; sie hat eine lange Tradition und ist gleichzeitig hochmodern. Hier gibt es Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten – wenn man sich einbringt.

DER STARKE FRANKEN

Derzeit versetzt der starke Franken das Land in Aufregung. Wie gefährlich ist er tatsächlich für die Wirtschaft?

Karrer: Sehr viele Unternehmen sind mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Es gibt Investitionsstopps, Schliessungen und Verlagerungen von Produktionsstandorten oder spezifischen Unternehmenstätigkeiten. Internationale Unternehmen investieren zudem mehr und mehr im Ausland. Hinzu kommt das deutlich geringere Interesse bei Neuansiedlungen. Unsere grösste Sorge ist jedoch, dass wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen. Wir müssen davon ausgehen, dass wir in der Schweiz viele Arbeitsplätze verlieren werden – ein Grossteil davon in der Industrie. Hat die Verlagerung von Stellen ins Ausland einmal stattgefunden, lässt sie sich kaum wieder rückgängig machen.

Was hilft den Schweizer Unternehmen in dieser Situation?

Rühl: Die Unternehmen müssen über Einsparungen ihre Kosten reduzieren können. Wir wollen keine staatlichen Impulsprogramme. Diese bringen nichts. Was den Unternehmen zu schaffen macht, sind die Kosten. Darum gibt es aus wirtschaftspolitischer Sicht nur einen Weg: auf kostentreibende Regulierungen verzichten. Hier geht es einerseits um bereits bestehende Regulierungen, deren Sinnhaftigkeit hinterfragt werden muss. Und andererseits ganz besonders um die Einführung neuer Regulierungen.

Können Sie ein Beispiel für eine solche Regulierung geben?

Rühl: Beispielsweise die Aktienrechtsrevision. Dort sehen wir keinen Handlungsbedarf. Denn die Umsetzung der Minder-Initiative ist über eine Verordnung bereits erfolgt. Aber auch in der Vorlage «Grüne Wirtschaft» gibt es Ansätze, bei denen man mittels Bürokratie und staatlicher Eingriffe Probleme lösen will.

Sie sagten, wir befänden uns erst am Anfang einer längeren schwierigen Phase. Heisst das, es darf in den nächsten zehn Jahren keine Regulierungen mehr geben?

Karrer: Überhaupt nicht. Aber die Regulierungen müssen sinnvoll sein, die internationale Situation mitberücksichtigen und einer Kosten-Nutzen-Analyse standhalten. Nehmen wir beispielsweise die Finanzdienstleistungen. Hier sind wir auch der Ansicht, dass es eine Regulierung im Bereich der Finanzstabilisierung oder der Eigenkapitalunterlegung braucht. Aufgrund der zusätzlichen Verteuerung durch den starken Franken müssen wir uns jedoch immer fragen, ob wir mit einer neuen Regulierung die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im internationalen Vergleich nicht zusätzlich verschlechtern.

Die Situation für viele Schweizer Unternehmen ist schwierig. Aber wird der starke Franken zuweilen auch als Vorwand für Rationalisierungen und Auslagerungen genommen?

Rühl: Schweizer Unternehmen sind doch stolz auf ihre Herkunft! Sie wollen am Standort Schweiz festhalten. Doch momentan haben wir hinsichtlich der Rahmenbedingungen zu viele offene Flanken: die Frankenstärke, die Unternehmensbesteuerung, die Beziehungen mit der EU, die Energieversorgung und die Altersvorsorge. Unsere Rahmenbedingungen sind unter Druck.

Politik und Wirtschaft müssten sich dafür wieder annähern – ein vorgängig erklärtes Ziel von Ihnen.

Rühl: Ja, man kann die Situation auch positiv sehen. Wir haben nun die Möglichkeit, unsere Rahmenbedingungen neu zu gestalten. Denn: Wir wollen in der Schweiz nicht nur starke Unternehmen, sondern auch einen starken Standort.

Karrer: In schwierigen Situationen liegt auch immer eine Chance. Wir müssen diese jetzt erkennen und nutzen. Wir müssen den Dialog zwischen Wirtschaft und Gesellschaft fördern. Wir müssen Bildung und Innovation weiter stärken. Und auf der politischen Ebene muss es uns gelingen, die Unternehmenssteuerreform mehrheitsfähig zu gestalten und vor allem die Bilateralen Verträge zu erhalten. Es gibt viel zu tun, und wir stellen uns diesen Herausforderungen.

DIGITALISIERUNG

Viele Arbeitsplätze sind derzeit gefährdet. Nun gibt es noch eine andere Entwicklung, die Sorgen bereitet: Die Automatisierung und Digitalisierung schreitet in rasanter Geschwindigkeit voran. In den Läden halten automatische Kassen Einzug, 3-D-Drucker stellen alle möglichen Gegenstände her, selbstfahrende Autos kommen. Werden wir bald alle arbeitslos?

Karrer: Gewisse Arbeitsplätze werden wegfallen. Aber die Innovationen führen auch zu neuen Stellen. Die Industrie hat sich bereits enorm verändert und wird sich noch verändern – beispielsweise durch den Einsatz von Robotik. Da wird es weitere enorme Entwicklungen geben. Im Automobilsektor kennt man dies bereits. Aber auch im Gesundheitsbereich, etwa bei der Medikamentierung, dürfte sie eingesetzt werden. Es gibt viel Potenzial. Und es entstehen auch andere wertschöpfende Tätigkeiten rund um die Digitalisierung.

Dennoch: Nicht jeder kann Ingenieur oder Entwickler sein.

Karrer: Es gibt nach wie vor beliebig viele andere Möglichkeiten, wie beispielsweise im Gesundheits- oder im Tourismussektor, wo der persönliche Kontakt auch morgen unerlässlich ist.

Rühl: Wichtig erscheint mir so oder so, sich über die gesamte berufliche Laufbahn ständig weiterzubilden. Man kann sich in jedem Beruf, in jeder Tätigkeit weiterbilden.

Karrer: Unser Bildungssystem ist geradezu prädestiniert, einer solchen Entwicklung Rechnung zu tragen. Einerseits haben wir die gymnasiale und universitäre Ausbildung mit Grundlagenforschung. Andererseits haben wir die Lehre, nach der es auch Möglichkeiten zu einer höheren Bildung gibt. Das ist schon einzigartig.

Unser Bildungssystem reguliert sich also von alleine. Wenn es in einer Branche nicht mehr viele Stellen gibt, werden auch nicht mehr so viele Lehrlinge ausgebildet.

Karrer: Genau. Rund 70 Prozent kommen durch eine Lehre in den Arbeitsmarkt. Dank unserem Bildungssystem können wir den Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung tragen. Deshalb haben wir im internationalen Vergleich eine tiefe Arbeits- und Jugendarbeitslosigkeit.

Inwiefern konkurrieren die grossen digitalen Firmen aus dem Silicon Valley die Schweizer Unternehmen?

Rühl: Sie sind sowohl eine Gefahr als auch eine Chance. Die Schweiz muss ebenfalls zulegen. Deshalb unterstützen wir auch den Nationalen Innovationspark. Dabei sollen Clusters von innovativen Firmen entstehen. Das braucht die Schweiz, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben.

In welchem Bereich muss die Schweiz an Innovationen zulegen?

Rühl: Es braucht Innovation in allen Branchen. Beim Finanzplatz, in der Pharmaindustrie, in der Uhrenindustrie: mir kommt keine Branche in den Sinn, in der wir keine Innovationen bräuchten. Unternehmen, die dies verpassen, sind rasch weg vom Markt.

NACHHALTIGKEIT

Was bedeutet Nachhaltigkeit für economiesuisse?

Karrer: Nachhaltigkeit hat für uns einen hohen Stellenwert. Uns ist aber auch wichtig, dass man in den Diskussionen rund um die Nachhaltigkeit alle drei Dimensionen berücksichtigt: die ökonomische, die soziale und die ökologische. Es gilt, ein Gleichgewicht zwischen diesen Bereichen zu schaffen. Schauen wir uns die weltweiten Rankings an, liegt die Schweiz nicht nur in der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch im Bereich Umwelt weit vorne.

Wie die Auswertung von «Global Footprint» zeigt, bräuchte es aber drei Planeten, würden alle Länder so viele Ressourcen verbrauchen wie die Schweiz.

Karrer: Die Diskussion ist deshalb so schwierig, weil das Wohlstandsgefälle der Länder so weit auseinanderklafft. Entwicklungsländer lassen sich nicht mit einem Industriestaat vergleichen. Handlungsbedarf aber ist unbestritten vorhanden – ebenso ein Nachholbedarf bei den Entwicklungsländern. Je innovativer wir sind und je mehr Wohlstand wir generieren, umso stärker können wir in den Umweltschutz investieren.

Rühl: Das ist in der Vergangenheit auch passiert. Meine Generation kann sich noch gut daran erinnern, dass man vor einigen Jahrzehnten nicht in allen Schweizer Seen oder Flüssen baden konnte. Zu stark waren damals manche Gewässer verschmutzt. Heute ist das undenkbar. Auch die Waldfläche hat in der Schweiz wieder zugenommen. Das gestiegene Bewusstsein für Nachhaltigkeit in der Bevölkerung, aber auch in der Wirtschaft, zeigt sich an solch positiven Beispielen.

Wieso sieht die Wirtschaft dann in der Vorlage der «Grünen Wirtschaft» keine Chance?

Karrer: Wir sehen in ihr keinen Nutzen. Einig sind wir mit den Initianten, dass die Ressourcen geschont werden müssen. Aber der Vorschlag – wie auch der Gegenvorschlag – will unter anderem die Lebenszyklusanalyse einführen. Dabei werden die Gewinnung, der Transport und die Verarbeitung der Rohstoffe untersucht. Das ist eine komplexe Angelegenheit. Jede Analyse hängt von zahlreichen Annahmen ab, die sich nicht auf Normierungen abstützen. Deshalb lehnen wir die Vorlage ab, zumal viele Überlegungen kontraproduktiv sind, es eine Abkehr der bisherigen CO2-Politik bedeutet und mit grossem administrativem Aufwand für die Unternehmen verbunden wäre.

Inwiefern kontraproduktiv?

Karrer: Es gibt Zielkonflikte. Je nach Annahmen in der Lebenszyklusanalyse können zwar die Ressourcen geschont, aber dafür beispielsweise die vereinbarten CO2-Ziele nicht erreicht werden.

Mit der CO2-Thematik tat sich economiesuisse aber auch schwer. So wurde der bundesrätliche Plan kritisiert, der die CO2-Emmissionen bis 2030 um die Hälfte gegenüber 1990 reduzieren will. Dies sei «zu ambitioniert», da der Kostendruck für Schweizer Unternehmen zu hoch sei, hiess es seitens des Verbands.

Karrer: Die Reduktionen befürworten wir. Allerdings wollen wir dafür auch Zertifikate aus Europa und anderen Ländern zulassen. Sie sind um ein Vielfaches günstiger. Für uns ist zentral, dass die Schweiz mit den eingesetzten Mitteln den maximalen Effekt an CO2-Reduktionen erzielt – denn CO2-Emissionen machen ja nicht halt an der Grenze. Natürlich müssen wir auch vor der eigenen Haustüre kehren; aber den ökonomischen Aspekt müssen wir dennoch berücksichtigen.

Vorgängig betonten Sie, dass Innovation in jedem Bereich stattfinden muss. Mit den ausländischen Zertifikaten verpasst die Schweiz jedoch die Möglichkeit, das Know-how selbst zu entwickeln, oder?

Karrer: Die Innovation und Entwicklung solcher Produkte findet auch in der Schweiz statt. Es gibt viele Schweizer Unternehmen, die mit energieeffizienten Produkten eigentliche Exportschlager entwickeln. Das ist grossartig. Der Standort Schweiz muss für solche Firmen attraktiv bleiben. Diese Balance schaffen wir, wenn CO2-Senkungen auch in der Schweiz stattfinden. Wir sind aber klar der Meinung, dass ein grosser Anteil im Ausland kompensiert werden soll.

Die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems basieren auf Wachstum. Die Ressourcen der Erde sind aber endlich. Wie lange funktioniert dieser eingeschlagene Weg noch?

Rühl: Diese spannende Diskussion begleitet die Menschheit schon lange. Das zeigt sich zum Beispiel an London im Jahr 1885. Damals dachten die Menschen, dass die Stadt in den nächsten 100 Jahren grosse Probleme wegen des zunehmenden Pferdemists bekommen würde. Sie gingen davon aus, dass der Kutschenverkehr linear wächst und es somit immer mehr Pferde auf den Strassen gäbe. Das Beispiel zeigt, wie sich die Menschen zu jeder Zeit vorstellen, alles würde gleich bleiben. Dadurch sehen sie stets die Grenzen des Wachstums. In Bezug auf London wissen wir heute, dass auf die Kutschen Autos folgten. Deshalb müssen wir Wachstum als Technologieentwicklung betrachten.

Karrer: Ein weiterer Aspekt ist, dass Wachstum häufig als Mengenwachstum betrachtet wird. Dann sind die Ressourcen tatsächlich endlich. Wir sollten aber ein Wachstum auf der Basis von Mehrwert anstreben.

Das Modell des Wachstums bleibt also Grundlage für die Volkswirtschaften oder sehen Sie einen möglichen anderen Weg?

Karrer: Es ist nicht einfach, eine Aussage für die Zukunft zu treffen. Gelingt es uns, das qualitative Wachstum zu verstärken, dann gehe ich davon aus, dass wir bei diesem Modell bleiben. Denn was man stets massiv unterschätzt, ist die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft der Menschen.

Rühl: Richtig. Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich die Menschen auch nicht vorstellen, wie sie das Problem mit dem Pferdemist lösen sollen. Für sie gehörten Pferde für immer zum Strassenverkehr. Als Kind wäre mir beispielsweise nie in den Sinn gekommen, dass es Computer geben wird. Ich bin überzeugt, dass es in den nächsten 50 Jahren Entwicklungen gibt, die wir uns heute nicht ansatzweise vorstellen können.

Der Pferdemist von damals lässt sich doch nicht mit der heutigen Technologie vergleichen. Diese ist schliesslich auf endliche Ressourcen angewiesen.

Rühl: Wie können Sie wissen, ob man in zehn oder 20 Jahren diese Rohstoffe noch braucht? Es gibt beispielsweise schon heute Entwicklungen von synthetischen Treibstoffen.

Karrer: Auch die Nanotechnologie verfügt über viel Potenzial. Die Schwierigkeit besteht darin, sich die damit verbundene Innovationskraft vorzustellen.

SCHWEIZ UND EUROPA

In Bezug auf Wachstum klettern vor allem die Schulden in die Höhe. Die EZB bringt jeden Monat 60 Milliarden Franken auf den Markt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Können diese Schulden jemals wieder abgebaut werden?

Karrer: Kommt durch das Ankurbeln der EZB die Wirtschaft wieder in Gang und kann Mehrwert geschaffen werden, dann geht das Vorhaben auf. Begleitet werden müsste dies jedoch von massiven Reformen in vielen europäischen Ländern.

Rühl: Die Länder und Volkswirtschaften suchen ja das Wachstum. Das sieht man in Asien oder in Schwellenländern allgemein – und inzwischen auch in Europa mit seinen Wachstumsprogrammen. Es ist der beste Motor, um die Menschen aus der Armut zu bringen. In der Schweiz führten wir rund um die Abstimmung zur Ecopop-Initiative eine intensive Diskussion. Seit dem 15. Januar nahmen die wachstumskritischen Stimmen ab. Denn Wohlstand ist ein Ziel, das alle unsere Gesellschaften haben.

Aber hat die Strategie der EZB bereits erste Erfolge gezeigt?

Karrer: Es gibt Konjunkturindikatoren, die einen Silberstreifen am Horizont zeigen. Die Frage ist, wie nachhaltig diese sind. Wir sind überzeugt, dass es grössere Reformanstrengungen in vielen Ländern Europas bräuchte, damit deren Volkswirtschaften wieder in Schwung kommen. Deshalb befürchten wir, dass es ein viel längerer Prozess ist, bis Europa wieder zu einem nachhaltigen Wachstum findet.

Rühl: Momentan sind zudem die Erdölpreise tief, was auch einen Ankurbelungseffekt hat. Es ist deshalb schwierig zu sagen, wie das Wachstum in Europa exakt generiert wird. Was man dabei berücksichtigen muss: So lange das Programm der EZB läuft, findet eine Schwächung des Euros statt. Das ist für die europäischen Exporteure nützlich, ihre Produkte werden günstiger. Aber für die Schweiz ist das problematisch, weil ein schwacher Euro einen starken Franken bedeutet.

Gibt es für die Schweiz eine Alternative zu der EU oder ist sie tatsächlich abhängig von diesem Markt?

Karrer: Abhängig zu sein klingt so negativ. Formulieren wir es doch positiv: Es ist ein riesiger Vorteil, dass wir uns inmitten eines grossen europäischen Wirtschaftsraums befinden. 56 Prozent aller Exporte gehen in die Europäische Union. Schwächelt diese, dann haben wir ein Absatzproblem.

Rühl: Ich gehe davon aus, dass die EU in den nächsten Jahren unser wichtigster Handelspartner bleibt. Wir müssen aber unseren Unternehmen die Chance geben, ihre Exporte zu diversifizieren. Unser zweitwichtigster Handelspartner sind die USA. Gäbe es ein Abkommen zwischen der EU und der USA (siehe TTIP, Anm. der Redaktion), wäre es wichtig, dass unsere Unternehmen auch partizipieren könnten. Freihandelsabkommen mit Japan oder mit China haben wir bereits. Diese braucht es, damit die Schweizer Wirtschaft breit aufgestellt ist. Denn die Unternehmen, die abhängig von Exporten in den EU-Raum sind, leiden deutlich stärker unter der Frankenstärke als solche, die ihre Exporte weltweit leisten können.

Unklar ist zurzeit auch, wie es mit den Bilateralen Verträgen weitergeht.

Karrer: Deren Erhaltung hat eine hohe Bedeutung für die Schweiz. Die Partnerschaft mit der EU ist enorm wichtig, weshalb wir alles daran setzen, die Bilateralen Verträge aufrechtzuerhalten. In einem ersten Schritt geht es darum, die Masseneinwanderungsinitiative so umzusetzen, dass die grösstmögliche Flexibilität unter Berücksichtigung des Verfassungsartikels besteht. Je restriktiver die Umsetzung ist, umso schwieriger wird eine Verhandlung mit der EU.

Wären Sie anstelle des Bundesrats, wie würden Sie denn diese Initiative umsetzen?

Karrer: Wir würden insbesondere drei Punkte anpassen. So möchten wir zwölf statt vier Monate für die Kurzaufenthalter festschreiben. Dadurch hätten wertschöpfungsschwächere Branchen, wie der Tourismus oder die Landwirtschaft, mehr Möglichkeiten, ohne allfällige Kontingente zu beanspruchen. Daneben möchten wir die Grenzgänger zur Angelegenheit der Kantone machen – und sie somit nicht als Teil der Kontingente einstufen. Denn die Situation variiert je nach Kanton stark. Als dritten Punkt schlagen wir die Schutzklausel vor. Werden dabei Höchstgrenzen überschritten, kämen Kontingente zum Zug. Sind diese erschöpft, könnten nur noch so viele Menschen einwandern wie auch auswandern. Diese Schutzklausel hätte zwei Vorteile: Das Inländerpotenzial würde stärker ausgereizt und die EU kennt die Schutzklauseln in unterschiedlicher Art und Weise. Dies dürfte die Verhandlungen erleichtern.

Zum Abschluss des Gesprächs möchten wir nochmals über Ihre gemeinsame Arbeit sprechen. Können Sie ein Fazit ziehen, wie Sie die ersten Monate erlebten?

Karrer: Insgesamt befindet sich der Verband in deutlich ruhigerem Fahrwasser. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass nun alle Funktionen besetzt sind. Das gibt Stabilität und Ruhe – das ist die Voraussetzung für ein konzentriertes und erfolgreiches Arbeiten. Die Zusammenarbeit mit Monika Rühl war von Anfang an reibungslos – gleichzeitig strukturiert und unkompliziert. Insgesamt ist es für mich eine sehr erfreuliche Erfahrung.

Rühl: Für mich auch. Ich stelle ebenfalls eine Beruhigung in der Wahrnehmung von economiesuisse fest. Wir erhalten positive Rückmeldungen auf unsere Arbeit. Diese wird wieder geschätzt, was auch für die Motivation des Teams wichtig ist. Wir sind wieder komplett und haben eine kleine Reorganisation des Kommunikationteams durchgeführt. Zusammen mit den positiven Feedbacks gibt das uns allen noch mehr Schub. Das freut mich. Die Zusammenarbeit mit Heinz Karrer ist für mich ideal. Ich hoffe, sie wird noch viele Jahre dauern.